LESEPROBE
Resurecturis! In großen, schwarzen Lettern stand dieses Wort über dem versperrten Eingang zu einer kleinen Gruft geschrieben, die von einer mit Grünspan überzogenen, kupfernen Kuppel bedeckt war. Auferstanden! Was für ein leeres Pathos, dachte Luc bei sich, als er mit seiner Schwester Julie unterm Arm und Tränen in den Augen einen letzten Blick auf den Friedhof warf. Es war ein kalter, trostloser Dezembertag. Der unter ihren Füßen knarrende Schnee lag wie weißes Leinen über den steinernen Gräbern, deren glatt polierte Platten darunter verborgen blieben. Genauso wie die Menschen, die man zur letzten Ruhe hierher verbracht hatte. Die langsam, aber stetig in der Erde vor sich hin rotteten. Ihre Eltern hatten eine Feuerbestattung vorgezogen und so war ihre Asche in einer schlichten Nische im Urnenhain eingestellt worden. Was für ein klägliches Ende. Nichts war übrig geblieben als ein Häufchen Ruß in einem schmalen Gefäß. Gerade so groß, um einen bescheidenen Strauß Blumen darin etwas Wasser zu spenden. Luc ließ seine Blicke über die Grabsteine vor ihm wandern, die aufgereiht wie Zinnsoldaten in akkuraten Reihen und Gliedern angeordnet waren. Viele der Familiennamen, die man darauf lesen konnte, waren ihm geläufig. Manche vielleicht mehr, als ihm lieb war. Doch in diesem Moment waren alle Erinnerungen verblasst und von einer unsäglichen Trauer überlagert. Julie hatte sich bislang gut gehalten, doch plötzlich spürte ihr Bruder, dass ihre Knie nachgaben. Er fing sie gerade noch auf und brachte sie zu einer Bank, die direkt an der Friedhofsmauer stand. Notdürftig wischte er die darauf liegende Schneeschicht von der Sitzfläche ab. Ihre langen Mäntel würden sie auch so ausreichend schützen. Julie klammerte sich schluchzend an ihn. Vergrub ihr braunes, langes Haar in seiner Brust. Sie hatten seit gut einer Stunde kein Wort mehr gesprochen. Weder bei der kurzen Trauerfeier vor den Urnen ihrer Eltern, noch bei den anschließenden Beileidsbekundungen, die sie als engste Hinterbliebene entgegengenommen hatten. Hernach waren die beiden noch eine ganze Weile alleine bei den Überresten ihrer Eltern verblieben. Die Ruhe, die dabei einkehrte, hatte Julie apathisch werden lassen. Doch nun ließ sie ihren Gefühlen freien Lauf. Luc zog sie ganz nah zu sich, streichelte über ihren Kopf und schwieg weiter. Kein Wort war geeignet auszudrücken, was er empfand. Was sie empfand. Es war, als stünde die Zeit still, die Welt still. Und so war es auch. Die Welt stand still. Zumindest in ihren Herzen. Anderswo mahlten die Mühlen weiter. So wie sie immer weiter mahlten. Bis es nichts mehr zu mahlen gab. Doch anderswo war nicht hier.
*
„Es ist eine Weile her, seit wir das letzte Mal so eng zu einander standen“, sagte Julie, als sie sich vom Friedhof zurück zu ihrem Elternhaus begaben. Luc sah sich die Fassaden der Häuser an, an denen sie vorbeikamen. Er war nicht bereit darüber zu sprechen. Das ließen seine Gedanken in diesem Moment nicht zu. Also wich er aus.
„Wie oft sind wir in all den Jahren diese Gasse entlanggefahren?“, fragte er rhetorisch. Rückblickend auf jene Zeit, als sie entweder Mama oder Papa mit dem Auto zur Schule in die nahegelegene Stadt Mürren gebracht und von dieser wieder abgeholt hatten. Allen Aufrufen zur Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel zum Trotz. Julie sah ihn mit einem vielsagenden Blick von der Seite an. Er glich in vielem seinem Vater. Auch wenn er sich das selbst niemals eingestanden hätte.
„Keine Ahnung“, antwortete sie. Wohl wissend, was in ihrem Bruder gerade emotional vorging. Der nahm seine Brille kurz ab, wischte mit einem Ärmel über sein Gesicht und setzte sie dann mit einer ihm eigenen, unnachahmlichen Handbewegung wieder auf. Was Julie ein leichtes Lächeln in ihrem tränenzerronnenen Gesicht abtrotzte.
„Ich weiß es auch nicht“, begann er. „Tausende Male. Und doch hätte ich bis zu diesem Moment die Häuser nicht so beschreiben können, wie ich sie gerade sehe. Was zeigt, dass es stets auf die Perspektive ankommt.“ Julie nickte. Papa hatte das auch immer gesagt. Im Stillen fragte sie sich, ob sie diese Gasse tatsächlich niemals zu Fuß oder auf dem Fahrrad durchquert hatten. Wobei das Dorf, in dem sie aufgewachsen waren, gerade einmal anderthalb tausend Einwohner zählte. Und ein dementsprechend überschaubares Wegenetz. Vielleicht waren sie aber auch zu behütet aufgewachsen, schlich sich ein kleiner Gedanke kurz bei ihr ein. Der sich wieder verflüchtigte, als Luc weiterredete. „Je schöner die Fassade, desto hässlicher, was sich dahinter verbirgt.“ Er zeigte dabei auf zwei Häuser, die nicht weit voneinander standen. Und über deren Bewohner es einst durchaus unappetitliche Geschichten zu erzählen gegeben hatte. Freilich nichts Strafbares. Aber sehr wohl Anstößiges. Was in einem Ort wie diesem rasch die Runde gemacht hatte. Und niemals vergessen wurde. So lange es auch immer her sein mochte.
„Papa hat darüber immer gelacht“, merkte Julie zu diesem Exkurs in die Vergangenheit an. „So wie er über alles gelacht hat, was irgendwelche heuchlerischen Vorstellungen von Moral anging.“ Luc nickte.
„Ja. Das hat ihn amüsiert. So wie ihn alles amüsierte, was zu Lasten von Leuten ging, die sich selber zu wichtig nahmen.“ Seine Schwester stimmte zu.
„Mama hat es da immer mit Sprichwörtern gehalten.“ Sie machte eine kurze Pause. „Wer ohne Sünde ist“. Den Rest des Satzes ließ sie offen. Ja, so waren ihre Eltern. Liebenswert, aber auch sarkastisch. Der Gehsteig endete und sie mussten ihren Weg auf der Fahrbahn fortsetzen. Der glattgewalzte, steifgefrorene Schnee war mit schwarzem Streusplit versehen, was die Rutschgefahr etwas minderte. Ein Wagen schlingerte in knappen Abstand neben ihnen vorbei und schlug dann einen scharfen Bogen Richtung Ortszentrum. Der Fahrer hupte dabei, als wären ihm die beiden im Wege gewesen. Julie hatte ihn sofort wiedererkannt, auch wenn sie eine Weile weg von ihrem Heimatdorf Eichenau gewesen war. Erst im September hatte sie eine Stelle als Lehrerin an der Grundschule in Mürren angetreten und war damit nach dem Sammeln von Berufserfahrung in der Fremde zurück in den heimischen Schoß gekehrt. So, wie es sich Mutter und Vater immer gewünscht hatten.
„Was für ein Arschloch“, nahm ihr Bruder Bezug auf den Autofahrer. Luc war vier Jahre jünger als seine Schwester, hatte aber wohl schon einiges mehr erlebt. Er hatte die mittlere Reife gerade so geschafft, spielte in einer Band Gitarre, die zumeist erst nach Mitternacht auftrat und jobbte gerade so viel, um weder der Familie, noch Vater Staat über Gebühr auf der Tasche zu liegen. Worüber es mitunter hitzige Diskussionen im Hause De Colle gegeben hatte. Mama Suzanne war ein bürgerliches Leben für ihren Sohn vorgeschwebt, während Papa Michel einen Plan B forderte, wenn aus der Musik nichts wurde. Daran hatte man sich gerieben. Einmal mehr. Einmal weniger. Und manchmal auch gar nicht, wenn es etwas zu Feiern gab. Wofür es mitunter keines großen Anlasses bedurfte. Die Launen der Menschen waren mitunter unergründlich. Als sie zur Kreuzung beim Feuerwehrhaus kamen, die links zum Marktplatz und rechts heimwärts führte, blieben sie kurz stehen. Blickten hoch zum Gebäude, das vor ihnen stand. Beide waren dort in den Kindergarten gegangen. Und Julie auch vier Jahre lang zur Grundschule, die Luc in Mürren besucht hatte. Wegen Überqualifikation des Lehrkörpers in Eichenau, wie es ihr Vater begründet hatte. Er wolle nicht, dass aus seinem Sohn noch ein Genie wurde, wie er stets mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen betonte. Ein normaler Mensch mit all seinen Ecken, Kanten und Eigenheiten genügte ihm. Und den hatte er mit Luc dann auch bekommen.
„Kannst du dich noch erinnern?“, fragte Luc seine Schwester und zog sie sicherheitshalber ganz nahe zu sich. Womöglich spielten ihr ihre Beine erneut einen Streich. Julie steckte eines ihrer Stofftaschentücher zurück in die Manteltasche und sah ihren Bruder eine Weile lang verträumt an. So, als wären sie wieder genau dort. Kleine Kinder, die ihre ersten Schritte im Leben machten. Der eine im Kindergarten, die andere in der Schule.
„Ja“, sagte Julie und ihre Augen glänzten in diesem Moment nicht von den Tränen, sondern von der Freude, die sie als Kind empfunden hatte. „Es war schön hier. Mama und Papa hätten gar nichts anderes zugelassen.“ Luc nickte und versteckte dann sein Kinn wieder unter Kragen und Schal. Die Kälte war beißend wie ein ungezogener Hund. Ja, so waren ihre Eltern. Kompromisslos, wenn es um ihre Kinder ging. Luc stellte Julie eine kurze Frage.
„Wie viele Leute sind heute da gewesen?“ Julie starrte vor sich hin. So, wie sie es in der Volksschule, vor der sie sich gerade befand, auch manchmal getan hatte. Damals in Träumen, nun mit Sorgen.
„Ich weiß nicht“, antwortete sie sich erst schrittweise erinnernd. „Viele Leute aus dem Klinikum in Mürren, wo Mama ihr ganzes Berufsleben lang gearbeitet hat. Ein paar private Freunde von ihr. Papas Vereinskameraden und Leute von der Gemeinde. Der Bürgermeister, ein Literaturkritiker oder zwei. Was weiß ich. Ich hab kaum bis zur Wand gesehen, neben der wir gestanden sind.“ Luc blickte in Richtung des Marktplatzes, der nur hundert Meter entfernt war, aufgrund einer leichten Straßenbiegung von ihrem Standort aus aber nicht eingesehen werden konnte.
„Irgendjemand ist heute am Friedhof gewesen, der dort nicht hingehörte“, sprach er plötzlich aus voller Überzeugung. „Ich habe diese Person erst gesehen, als wir Richtung Ausgang unterwegs waren. Dann ist sie verschwunden. So schnell wie ein Schatten verschwindet, wenn man aus dem Licht in die Finsternis tritt.“ Julie sah ihren Bruder verstört an.
„Der Besucher eines anderen Grabs. Oder ein verirrter Schaulustiger“, sagte sie mit ihren Gedanken weit weg. Doch Luc schüttelte den Kopf.
„Gehen wir noch rauf ins Café?“, fragte er stattdessen. Julie war erst irritiert, verstand dann aber. Vater hätte erwartet, dass sie etwas auf sein Wohl tranken. Mutter vermutlich nicht. Also einigten sie sich auf ein Getränk.
„Dictum, factum“, sagten sie und gaben sich mit dem kleinen Finger die Hand. Gesagt, getan. Papa hatte kein Latein gelernt. Aber er liebte altrömische Sprichwörter. Das war eines davon. Die Beiden lächelten einander an, als sie es aussprachen.
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