Trilogie des Todes

LESEPROBE

"Die Freiheit ist die letzte Bastion der Menschlichkeit. Doch die Menschlichkeit liegt in ihren letzten Atemzügen. So wie alles andere auch."

Teil I: Das Ende der Jugend

Ein schriller Pfeifton hallte durch den graugestrichenen Gang. Er unterbrach abrupt die scheinbar idyllische Ruhe. Aber nichts sonst erinnerte an diesem Ort an Idylle. Die Nacht war vorüber. Vorbei gegangen wie all die sinnlosen Nächte des Schlafes. Ver­lorengegangen in ohnmächtiger Dunkelheit. Ich rappelte mich aus meinem Stahlbett und schloss meinen Spind auf. Der tagtägliche Alptraum hatte mich wieder erfasst. Er durchfuhr meine Knochen wie der Blitz eines trostlosen Herbstgewitters. Alles hier war trostlos. Mein Dasein, meine Gedanken, die Aussicht auf den kommenden Tag. Es war Anfang Januar und ich war seit drei Tagen Soldat der Armee der demokratischen Republik Ostland. Diese Tat­sache war die Trostloseste von allen. Die anderen fünfzehn Männer des Zimmers 213 waren ebenfalls von ihren Betten aufgestanden und gingen schweigend ihren morgendlichen Tätigkeiten nach. Bis auf einen hatte ich noch niemanden von ihnen jemals gesehen. Nun waren wir zu Leidensgenossen geworden, die sich ein paar Quadrat­meter Raum miteinander teilten. Der staatsbürgerlichen Pflicht nachkommend. Nach der Körperpflege und dem vorschriftsmäßigen Bettenbau machte ich mich daran die Uniform überzustreifen. Diese gehasste Uniform, die all das verkörperte, das ich zutiefst verabscheute. Die Vereinheitlichung von Menschen zu einer Masse von hirnlosen Individuen. Zum Symbol der Verachtung. Uniformen zerstörten diese Welt. Und die Menschen, die an sie glaubten, sie verehrten, die für dieses Stück Stoff alles tun würden. Sei es noch so abstoßend und verabscheuungswürdig. Ich wienerte meine Stiefel auf Hochglanz, um der Norm gerecht zu werden und begab mich in den Speisesaal. Das ganze Leben hier schien reglementiert zu sein. Gespickt von Normen, Vorschriften und Verboten. Gesetze, die geeignet waren zu unterdrücken. Gesetze, für eine Handvoll von Personen zur Legitimation ihrer Machtausübung. Niemals waren alle Menschen vor den Augen des Gesetzes gleich. Es war für jene bestimmt, die sich das Gesetz zu Nutze machten. Ihren Vorteil da­raus zogen. Auch Gesetze zerstörten diese Welt. Als ich am Ende der Warteschlange vor dem Speisesaal anlangte, betrachtete ich die Gesichter der Männer, die vor mir standen. Verzweiflung, Abwesenheit, Gleichgültigkeit war daraus zu lesen. Niemand hier fühlte sich glücklich oder zufrieden. Bloß hoffend, dass auch dieser Tag vorüber gehen würde. Trotzdem gaben mir diese Gesichter Mut. Ich war nicht der Einzige, der sich mies fühlte. Als ich endlich meine Ration empfangen hatte, setzte ich mich auf einen freien Stuhl und schlang das Essen in mich rein. Alles musste rasch gehen, denn stets drängte die Zeit. Und eine Entschuldigung für ein zu spät kommen gab es nicht. Als ich all das in mich hineinwürgte kam ich auf den Gedanken mich selbst zu verspeisen. Das Brot, die Butter, die Wurst. Selbst der Kaffee. Der Kreislauf des Systems ließ einen nie los. Ein stetes Einnehmen und wieder Ausscheiden. Niemals war auch nur ein Stückchen von Freiheit in Sicht. Ich aß hier nicht Frühstück, ich aß meine Hände, meine Füße, meine Seele, meinen Verstand. All das versuchten sie aus einem herauszu­schneiden. Solange bis man zerstört war. Zerbrochen und zerstört. Mir wurde schlecht. Ich nahm das Tablett, lieferte es ab und begab mich wieder auf Zimmer 213. Schweigend blickten wir auf die Uhr. Noch drei Minuten. Noch zwei. Noch eine. Dann ertönte wieder dieser Pfiff. Dieser Pfiff war wie das Signal zu sterben. Der Zimmerkommandant riß die Tür auf, trat vor und empfang den durch den Flur geschrieenen Befehl. Dann schloß er wieder. So wie all die anderen Zimmerkommandanten meiner Kompanie. Er brauchte uns die Verlautbarung nicht mitzuteilen. Wir hatten sie alle ge­hört. Wieder hieß es warten. In diesen Sekunden standen meine Gedanken völlig starr. Ich hatte nur einen Wunsch. Weit weg von hier zu sein. Doch hier war kein Platz für Wünsche. Und Hoffnungen. Nicht einmal für Träume. Und wo hätte ich auch schon mein Be­gehren deponieren können. Der Weihnachtsmann war tot. Die Jung­frau Maria war tot. Selbst Gott war tot. Alles war tot. Nur eines war allgegenwärtig. Das Gefängnis, dessen Mauern immer näher rückten. Dann ertönte erneut der schrille Klang der Pfeife. Wieder öffneten sich die Türen und der Diensthabende forderte uns mit einer gebrüllten Parole auf auszutreten. Wir stürzten aus dem Zimmer raus auf den Gang und liefen die 56 Treppen hinab in den Hof. Die Ausbildner, die auf dem Weg dahin postiert waren, feuerten uns dabei mit derben Ausdrücken an. So ging das jeden Tag. Pfiffe, Schreie, schwarze Stiefel in hektischer Bewegung, Treppen rauf und runter. Solange bis wir ihrer Meinung nach schnell genug ge­wesen waren. Am Platz angelangt schoben wir uns in die einge­teilten Formationen. Vier Glieder zu je zehn Mann pro Zug. Meine Kompanie bestand aus zwei Zügen. Also 80 Mann. 80 Mann die da­rauf warteten zu blindem Gehorsam erzogen zu werden. Diesesmal hatten wir Glück gehabt. Wir waren rechtzeitig in Formation an­getreten. Der Diensthabende stellte sich vor die Kompanie und nahm die Vergatterung vor. Wir standen wie Zinnsoldaten. Blick gerade aus, Körper durchgestreckt, Brust vorstehend, Kinn ange­hoben, die Fußspitzen eine halbe Schuhlänge geöffnet. Wie Figuren in einem überdimensionalen Schachspiel. Wie Bauern deren Opferung wenig Nachteil bedeutete. Ich starrte auf die Mütze meines Vorder­manns und verfluchte den Tag meiner Geburt. Ich sehnte mich an die Tage meiner Jugend zurück. An Tage wo ich noch gelebt hatte. Nun, all das war verschwunden. Versunken im tief schwarzen Krater der Gesellschaft, des blödsinnigen Systems. Der Diensthabende ließ uns ruhen und wir zogen das linke Bein zur Entlastung vor. Der Drill der letzten Tage hatte sich schon bemerkbar gemacht. Mein ganzer Körper war mechanisch geworden. Die Befehle bereitwillig ausführend. Wir waren alle dazu verdammt Roboter zu werden. Zur Maschine umfunktioniert. In dieser Fabrik des Wahnsinns. Der Spieß, der höchstgestellte Unteroffizier, baute sich vor uns auf und ging die Anwesenheitsliste durch. Er rief die alphabetisch geordneten Namen der Wehrdienstleistenden auf und ließ sich deren Präsenz durch einen kurzen Ruf bestätigen. All diese Namen die nichts be­deuteten. Die auf immer und ewig unbekannt blieben. Deren Ge­schichte niemanden interessierte. Schließlich wurde auch ich aufgerufen. Collins. Wieder ein Name, der in der Anonymität dieser Welt unterging. Ohne jemals die Chance auf Wahrnehmung zu erhalten. Ich meldete meine Anwesenheit und schwieg weiter vor mich hin. Collins. Mika Collins. Das war ich. Soldmann in Diensten des Staates Ostland. Diesen Staat, den ich haßte. Und die Menschen, die darin die Macht repräsentierten. Ob Legislative, Exekutive oder Jurisdiktion. Die ganze eingeschworene Gemeinschaft dieser hirnlosen Pharisäer. Als Außenstehender blieb man stets ein Spielball, der solange getreten wurde bis ihm die Luft ausging und am Straßenrand liegengelassen wurde. Hätte ich einen Weg ge­wußt sie zu töten, ohne mich als Mörder zu fühlen, wäre mir jedes Mittel recht gewesen. Aber es gab auch noch eine andere Möglich­keit. Ich mußte versuchen sie aus meinen Gedanken zu löschen. Dann waren sie besiegt. Nicht mehr fähig mich anzugreifen. Doch noch war ich nicht stark genug. Noch war ich zu verwirrt. Zu sehr von den Ereignissen rings um mich herum verängstigt und gelähmt. Nach dem morgendlichen Appell wurden wir in unsere Zimmer zurückgeschickt um uns für den ganztägigen Gefechtsdienst zu adjustieren. Was das zu bedeuten hatte war uns inzwischen allen klar. Wir rannten wieder diese 56 Treppen hinauf, liefen durch den grellen Gang, schlossen im Zimmer angelangt unsere Schränke auf und begannen unsere Ausrüstung anzulegen. Stahlhelm, schwere Jacke, Panzerstiefel, Überhose, Kampfgurt und Rückenge­päck. Als ich all das angezogen beziehungsweise übergeworfen hatte, fühlte ich mich wie ein unbeweglicher Klumpen Fleisch. Eingemummt in Fragmenten des Krieges, der Idiotie. Doch die Frage nach dem Sinn hatte ich verworfen. Es gab keine Antwort darauf. Nichts hier ließ eine Antwort zu. Also wozu sich damit unnötiger­weise belasten? Jede Bewegung in dieser Kluft des Hasses bedeutete große Anstrengung. Wir muteten uns wie vorsintflutliche Mond­fahrer an. Wie Marionetten deren Fäden hin und her zerrten. Als ich schließlich meine Waffe aus dem Kasten nahm wurde ich sehr nachdenklich. Ich dachte an den Tag zurück, wo wir sie überreicht bekamen. Es war später Abend gewesen und der Frost klirrte an den Fenstern der Kaserne. Die Kompanie war vor einem langen, mit einem weißen Tuch überzogenen Tisch angetreten. Rund herum waren brennende Fackeln angebracht. Es wirkte wie ein Szenario aus einer schrecklichen, lange vergangenen Zeit. Bei diesem Anblick ver­spürte ich eine unheimliche Angst in mir aufsteigen. So als ob die letzten Minuten meines Lebens anbrachen. Die Namen der einzelnen Soldmänner wurden aufgerufen. Sie traten vor, griffen sich das ihnen hingestreckte Gewehr, drehten um und verschwanden wieder in der Formation. Als auch ich aufgefordert wurde, kam ich diesem Verlangen nur sehr zögernd nach. Ich wollte diese Waffe nicht. Ich wollte bloß in irgendeiner Kneipe an der Bar sitzen und mich be­saufen. Doch ich hatte keine Wahl. Der Blick des übergebenden Offiziers durchbohrte meine Augen. Er kam mir wie eine blut­gierige, zähnefletschende Bestie vor. Mir wurde kurz schwarz vor Augen. Jede Pore meines Körpers war von Abscheu erfüllt. Es hätte mir nichts ausgemacht auf der Stelle tot zusammenzubrechen. So diesem grauenvollen Alptraum zu entkommen. Aber es gab kein Ent­rinnen. Ständig war man dazu verdammt Dinge zu tun die man verab­scheute. Ein ganzes elendes Leben lang. Nur der Tod schien die Erlösung zu sein. Doch der Tod hielt sich hartnäckig vor mir versteckt. Seine Sense unerreichbar weggepackt. Ich riß mich zusammen und nahm mit zittrigen Händen die Waffe an mich. Dann machte ich, so schnell wie möglich wieder von dort zu verschwinden. Diese kleine Inszenierung in nächtlicher Dunkelheit hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Es war ein weiteres Mittel dazu gewesen uns einzuschüchtern. Uns gefügig zu machen. Ihre Methoden waren einfach zu durchschauen und trotzdem zogen sie ihre kleinen Furchen durch das Gehirn. Diese Erkenntnis war sehr beunruhigend. Was würde noch alles auf uns zukommen? Was würden sie noch alles für ihre Zwecke mit uns anstellen? Ich schloß meinen Spind ab und sinnierte weiter vor mich hin. Die anderen Geschehnisse um mich herum blieben mir weitgehend verborgen. Meine zermürbenden Ge­danken hatten mich fest im Griff. Sie begannen mir zu schaffen zu machen. Ich setzte mich auf eine der beiden langen Bänke und wartete auf den nächsten Pfiff. Wie ein Hund der darauf wartete, dass der Stock geworfen wurde. Das waren wir auch. Dressierte Hunde.

-Absatz-

Ich saß mit 17 anderen Männern auf der Platform eines schäbigen Lastwagens. Wir fuhren einen Waldweg entlang und bei jedem Schlag­loch wurde die ganze Besatzung gehörig durchgebeutelt. Viele Schlaglöcher säumten unseren dornigen Weg zum Ort der Verdammnis. Obwohl es verboten war, zündete ich mir eine Zigarette an und zog gierig am Filter. Es gab selten Gelegenheit zu rauchen und so ließ ich genußvoll den Qualm durch meinen Körper zirkulieren. Die verschneite Landschaft an der wir vorbeizogen wirkte kalt und abstoßend. Wie ein letzter Vorhof zur Hölle. Früher hatte ich es geliebt in der Natur zu sein. Ihre Wunder und Schönheiten zu bestaunen. Nun graute mir vor ihr. Die Natur würde unser Schicksal besiegeln. Unsere Unfähigkeit mit dem Leben umzugehen bestrafen. Die herumstehenden Fichten und Föhren wirkten wie Galgenbäume auf denen schon bald die Schlingen des Todes herab­hängen würden. Sehr bald. Je länger wir fuhren desto unbehaglicher fühlte ich mich. Es war wie eine Fahrt zur Schlachtbank, zum Schafott. Es kam einer Vergewaltigung gleich. Eine vom Staat sanktionierte Nötigung. Wir hatten uns der Pflicht zu beugen und damit war die Sache erledigt. Niemand wurde nach seiner Meinung, seinem Willen gefragt. Und Verweigerung kam nicht in Frage. Das hätte alles noch viel schlimmer gemacht. Angesichts der Greuel, die sich in anderen Teilen der Erde abspielten, mutete sich dies wahrscheinlich wie eine Fahrt ins Blaue an. Trotzdem war es eine gewaltige Einschränkung der persönlichen Freiheit. Dieser Freiheit, die allen Menschen garantiert war. Auf dem Papier. Doch das System wollte von Freiheit nichts wissen. Das System wollte willige, gehorsame Staatsbürger, am Besten mit amputierten Ge­hirnen, die sich für das Wohl des Vaterlandes hingaben. Die Aus­sichten diesem Kreislauf zu entkommen wurden immer deprimierender. Die Hoffnung war auf dem Nullpunkt angelangt. Alles war am Null­punkt. Nur der Haß in mir wuchs stetig an. Der Wagen hielt und ich warf meine Zigarette weg. Der Fahrer öffnete die Bordwand und der Fahrzeugkommandant befahl abzusitzen. Wir sprangen nach­einander ab und stellten uns in Reih und Glied auf. Die Ausbildner standen in einer Gruppe zusammen und scherzten herum. Sie lachten über die derbsten Späße, während wir in starrer Haltung dahinfroren und auf unser Schicksal warteten. Für uns gab es hier nichts zu lachen. Selbst wenn wir gedurft hätten. Der Zugskomman­dant trat vor und begann seine Ansprache. Er schärfte uns ein, dass Kampf, Kameradschaft und Disziplin die größten soldatischen Tugenden waren und wir alles daran setzen mussten, dem ge­recht zu werden. Wir sollten stets Stolz auf unsere Einheit, unsere Armee und deren Leistungen sein. Um würdig für die Bezeichnung Soldat zu sein. Mit der Zeit wurde mir dieses fanatische Gerede zu viel und ich hörte einfach nicht mehr hin. Ich hatte keinen Grund zu der Überzeugung auf irgendetwas Stolz zu sein. Wir hatten doch bloß schäbige Ausrüstung, schäbige Moral und schäbige Ehre. Alles was wir hier taten war unnütz und nicht zielführend. Eine Farce selbst für die Leute, die daran glaubten. Unsere Armee würde keinem Feind dieser Welt standhalten können. Soviel war klar. Wenn überhaupt, dann hatte dieses Heer nur eine Existenzberechtigung als Arbeit­geber, als Katastrophenhelfer und kleiner Wirtschaftszweig. Für ihre eigentliche Be­stimmung war sie allerdings unfähig. Ausgestattet mit Ausschuß­ware aus längst vergangenen Kriegen. Das war die Wahrheit, aber die wollte niemand hören. Propaganda war angesagt. Und wider­spruchslose Befürwortung. Einziges Opfer und einzige Beute dieser Armee waren die neurekrutierten Soldaten. Der Zugskommandant be­endete seine Rede und die Ausbildner übernahmen ihre Gruppen. Der Ausbildner meines Trupps brachte uns zu einer Buschgruppe am Rande eines großen Ackers und befahl die Tarnung vorzunehmen. Ich nahm mein Feuerzeug und einen Flaschenstoppel aus der Jacken­tasche und brannte die flache Seite des Korks an. Den dadurch entstandenen Ruß schmierte ich mir ins Gesicht, an die Ohren, an den Hals, an die Hände. Als ich damit fertig war, mußte ich wohl wie ein Rauchfangkehrer ausgesehen haben. Anschließend rupfte ich Gras vom Boden und stopfte es in das Netz, das über den Stahlhelm gespannt war. Ich fühlte mich nicht mehr als Mensch. Nur noch als Tier, das im Boden nach Abfällen wühlte. Als beweg­liche Vogelscheuche. Als niedere Lebensform. Wir wurden auf den Krieg vorbereitet. Einen Krieg, den keiner von uns wollte, den niemand von uns begonnen oder beschlossen hatte. Bloß in Gehorsam ergeben. Gehorsam gegenüber kranken Gehirnen. Opfer der staat­lichen Idiotie. Ich stand dem ohnmächtig gegenüber. Denn es hatte keinen Sinn sich dagegen aufzulehnen. Also galt es sich damit abzufinden. Der Ausbildner, Wachtmeister Pepper, befahl zu sammeln und wir stellten uns im Halbkreis um ihn auf. Pepper war ein schmächtiger Mann. Schwarzes, kurzgeschorenes Haar, Oberlippen­bart. Auf seiner Nase saß eine dünne, silberne Rundglasbrille. Wie fast alle Ausbildner, die Wehrpflichtigen und auch mich eingeschlossen, fröhnte er sehr stark dem Alkohol. Der Alkohol schien hier über­haupt die einzige Möglichkeit um zu vergessen oder zu verdrängen. Offenbar hatten also auch die Vorgesetzten ihre Probleme. Welche Ursache diese hatten blieb allerdings unklar. Es war mir auch egal. Ich hatte genug mit mir selbst zu schaffen. Der Wachtmeister wiederholte nochmals das bisher gelernte und gab dann das Zeichen in Gefechtsformation zu gehen. Wie ferngesteuerte Wesen kamen wir seinem Verlangen nach. Das Gehirn bereits ausgeschaltet. Sicher in einem gepanzerten Raum weggesperrt. Der Ausbildner ging auf den Acker zu und wir folgten ihm auf beiden Seiten flankierend, mit jeweils sechs Metern Abstand von Mann zu Mann. So schritten wir voran, über beinhart gefrorenen Boden. Mit schwerem Atem, das Gewehr im Hüftanschlag und den Blick in die Ferne schweifend. In die unerreichbare Ferne, zu einem Ort der Sicherheit und ein wenig Freiheit. Pepper hob seine rechte Hand und senkte sie im nächsten Augenblick. Wir stürzten zu Boden und brachten unsere Waffen mit einem Blick durch das Zielfernrohr in Anschlag. Dann befahl er zu robben. Ich nahm das Gewehr in beide Hände und bewegte mich mit der Kraft meiner Ellbogen und Zehen vorwärts. Den Acker rauf und runter. Mit der Zeit wurde jeder Meter, den ich mich fortbewegte zur Qual. Arme und Beine wurden durch die spitzen, in der Erde eingefrorenen Steine blutig geschürft. Aber das ge­hörte mittlerweile zum Alltag, zu meinem Leben. Das schwere Rückengepäck, dass einem die Schultern runterdrückte und mit der Zeit die Haut aufwetzte, die an Knien und Ellbogen blutgetränkte Uniform, der Ruß im Gesicht, der Stahlhelm, der ständig nach vorne fiel, das dreckige Gewehr, die dreckigen Stiefel, die schlamm­verschmierte Jacke, die tagtägliche Schinderei, die keinerlei Sinn zu erkennen gab. Gehen, laufen, decken, kriechen, robben, gleiten. Ein schier endloses, makabres Spiel unter dem grauen Himmel meiner Existenz. Vereinzelt blieben Kameraden liegen und rangen um Luft. Der Wachtmeister fluchte und drohte so lange, bis sie sich wieder in Bewegung setzten. Ich starrte nur nach unten und wiederholte die mechanischen Abläufe immer und immer wieder. Ich war zwar nicht gerade der Sportlichste oder Kräftigste, aber ich hatte Willen. Ich wollte Pepper nicht die Genugtuung geben. Nicht vor ihm im Dreck liegen bleiben. Ich wollte, nein, ich konnte nicht aufgeben. Niemals. Das redete ich mir fest ein. Trotz der eisigen Kälte verspürte ich eine kaum zu ertragende Hitze in meinem Körper. Der Scheiß rann mir in Strömen übers Gesicht. So ging also alles zu Ende. Verhüllt in grünem Stoff auf frostiger Erde liegend. Ohne Hoffnung. Ohne jemals eine Chance bekommen zu haben. Ich rackerte mich weiter nach vor. Kein Ziel vor Augen. Immer nur die blödsinnige Pflicht erfüllend. Hätte ich auch nur noch einen Funken Verstand gehabt, wäre ich aufgestanden und von hier weggegangen. Was auch immer dann passierte. Aber den Verstand hatten sie mir schon geraubt. Den Ver­stand, die Würde, die Hoffnung. Nur der Wille war geblieben. Der Wille sie alle zu besiegen. Der Ausbildner machte ein Zeichen und wir erhoben uns wieder. Standen wieder mit beiden Füßen auf der Erde, dieser Welt. Zumindest bis zum nächsten Signal von Pepper. Er war unser Herr, unser Meister. Unser Schicksal lag in seinem Gutdünken. Der Gnade einer Figur im Spiel der Ver­dammten ausgeliefert. Langsam schritten wir voran. Eingeknickt, der Erschöpfung nahe. So sah also unsere Armee, auf die wir so Stolz sein mussten, aus. Ein Häufchen Elend. Eine Meute geprügelter Hunde. Ich dachte an die Worte des Zugskommandanten und begann innerlich zu lachen. Nichts davon kam auch nur im Entferntesten der Wahrheit nahe. Bloß das Hirngespinst einer kranken Phantasie. Wir waren verloren. Verloren bevor wir überhaupt kämpfen konnten. Doch wofür sollte ich kämpfen? Wozu lohnte sich das? Nichts schien es mir Wert zu verteidigen. Ostland? Nein, Ostland hatte keine Bedeutung für mich. Ostland war bloß der Ort meines Unter­gangs. So oder so. Sollten doch jene kämpfen, die etwas zu ver­lieren hatten. Zu denen gehörte ich mit Sicherheit nicht. Aber so war es schon immer. Die ganze Geschichte hindurch. Die Armen, die Einflußlosen, die Unterdrückten starben für etwas wo­von sie keinen Nutzen hatten. Bloß um die Reichen noch reicher zu machen. Die Privilegierten noch privilegierter. Die Namen der Großen dieser Welt waren mit fremden Blut geschrieben. Pepper senkte wieder seinen Arm und die zehn Mann meiner Gruppe gingen zu Boden. So war es richtig. Hier machten wir mit dem Ort Be­kanntschaft, wo wir hingehörten. Von der Bildfläche verschwunden. Wieder ackerten wir auf und ab. Der Zugskommandant erschien zur Dienstaufsicht und Pepper legte sich gehörig ins Zeug. Ständig ließ er die Formationen wechseln, befahl andauernd andere Be­wegungsarten. Er wollte sich vorm Chef profilieren. Unter Flüchen kam er auf mich zu und trat mich an den Fuß. Ich arbeitete an­scheinend nicht vorschriftsmäßig. Jede einzelne Bewegung war durch eine Vorschrift vorgegeben. An welcher Stelle das Gewehr zu halten sei, wie man Arme und Beine richtig abwinkelte, dass die Füße parallel zum Boden liegen mußten und so weiter. Der Wachtmeister befahl mir aufzustehen und mich vorschriftsmäßig zu decken. Ich tat wie mir geheißen wurde. Wieder auf. Und wieder decken. In einem fort. Ich ließ mich einfach nur mehr fallen. Entgegen der Vorschrift. Ich konnte nicht mehr. War zu erschöpft und ausgelaugt. Schließlich ließ er von mir ab. Pepper ging es dabei nicht um irgendeine Vorschrift. Ich bezweifelte, ob er sie überhaupt selbst genau genug kannte. Er wollte vor dem Zugs­kommandanten, Leutnant Ferri, den harten Mann markieren und ich hatte das Pech gehabt, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Pepper trat auf Ferri zu und erstattete Meldung. Der Leutnant nahm diese entgegen und befahl zu unser aller Verwunderung Pause zu machen. Ferri war uns bisweilen nur als gemeiner und uner­bittlicher Mann begegnet. Was hatte das zu bedeuten? Nun, wir überlegten nicht lange und liefen zu ihm hin, wo wir uns im Halbkreis versammelten. Das Rauchen wurde gestattet. Mit zittrigen Händen fischte ich mir eine Zigarette aus meiner Packung und gab mir Feuer. Ich hatte Glück. Der Glimmstengel war noch ganz. Nur ein wenig verbeult. Von der Wälzerei am Boden gingen normaler­weise die meisten Zigaretten in Bruch und man mußte sie auf zwei Etappen rauchen. Wir standen alle mit gesenkten Köpfen herum und starrten den Boden an. Ferris Anwesenheit war uns unangenehm. Bei den sonstigen Pausen redeten wir ein wenig und schafften es auch manchmal Pepper miteinzubeziehen. Wenn man dem Feind Freundlichkeiten aufwartete, ließ er sich hin und wieder be­sänftigen. Nun aber war Ferri da. Der Megafeind. Es dauerte nicht lange und er begann wieder seinen ideologischen Mist auf uns zu entladen. Ich drehte mich etwas abseits, um ihn erstens nicht ins Gesicht sehen zu müssen und zweitens nicht alles zu deutlich zu hören. Ferri war ein frisch aus der Militärakademie entlassener junger Leutnant. Voll Tatendrang und Blutgier. In der Akademie hatten sie ihm offensichtlich das letzte bißchen Verstand ge­nommen. Ihn zu einer gewaltigen Befehlsmaschine umfunktioniert. Sein Gehirn als unnütz entfernt. Er war der perfekte Soldat. Großgewachsen, blondes Haar, blaue Augen, sportliche Figur, drahtige Gesichtszüge, körperlich kerngesund. Adolf Hitler hätte seine wahre Freude an ihm gehabt. Aber Hitler war nicht mehr unser Problem. Der war tot. Aber Ferri lebte. Im äußeren Anschein zu­mindest. Plötzlich stand er vor mir. Seine Blicke trafen mich wie kleine, elektrisch geladene Blitze. Sein ganzes knochiges Ge­sicht schien mich zu verurteilen und bestrafen. Er hatte etwas an meiner Adjustierung auszusetzen. Das war natürlich nur ein Vorwand. Nach zwei Stunden in der Krabbelstube unseres geliebten Vaterlandes passte bei niemanden mehr das äußere Er­scheinungsbild. Was sowohl Uniform und Ausrüstung, als auch den körperlichen Zustand betraf. Er wollte mich bloß einschüchtern, mich kleinkriegen. Offensichtlich hatte er die Akten gründlich studiert und mich als scheinbaren Intellektuellen erkannt. Ich war der Einzige in meinem Zug mit höherer Schulbildung. Was mir bisweilen angelastet wurde. Es war mir gleich. Ich fühlte mich nicht als etwas Besseres. Ich war nur ein Rad mehr in der Mühle des zermalmenden Systems. Für Ferri hingegen stellte ich ein Problem dar. Er hatte Angst, ich könnte ihn aufgrund seiner ständigen Verstöße gegen die Dienstvorschriften belangen. Oder noch schlimmer, ich könnte ihn wegen eines Fehlers, welcher Art auch immer überführen und ihn somit lächerlich machen. Doch er machte sich zu unrecht Sorgen. Ich hatte mir vom ersten Tag an vorgenommen ruhig zu bleiben um keinerlei Schwierigkeiten zu bekommen. Selbst dann wenn mir Ungerechtigkeit widerfahren würde. Damit hätte ich mir nur jede Menge Feinde geschaffen und im Endeffekt auch nichts erreicht. Solche Angelegenheiten wurden intern erledigt, der Schuldige, wenn es ein Ausbildner war, mit einer kleinen Strafe versehen und anschließend das Opfer zum Täter gemacht. Widerstand machte also absolut keinen Sinn. So­viel hatte ich in dieser kurzen Zeit bereits begriffen. Ich wollte hier nur halbwegs über die Runden kommen, um am Wochenende Ausgang zu bekommen, wo ich mich in Grund und Boden saufen würde. Die einzige Frage die blieb konnte nur sein, ob der Preis dafür nicht zu hoch war. Doch dafür war die Zeit noch nicht reif genug. Ich starrte Ferri in diese blauen Augen, die urplötzlich tiefschwarz wurden und entschuldigte mich. Obwohl ich nicht im Geringsten wußte wofür. Aber ich würde ihn fürs erste zufrieden stellen. Meine Blicke hafteten nach wie vor eisern an ihm und für einen Moment konnte ich einen Funken von Unsicherheit in seinem Gesicht ablesen. Das gab mir Mut. Jeder hatte seine Schwachstelle, seinen Wunden Punkt. Auch der beinharte Leutnant Ferri. Er drehte sich um, gab Pepper noch letzte Anweisungen und verschwand wieder dort, von wo er ge­kommen war. Ich schloß die Augen und atmete tief durch. Der Zugs­kommandant hatte seine Visite beendet. Pepper befahl die Zigaretten auszumachen und die militärische Tretmühle hatte uns wieder. Die kurze Zeit der Erholung war keine wirkliche Regeneration gewesen. Schon alleine nicht wegen Ferris netten Besuch. Wir schnallten unsere Stahlhelme auf und warfen uns wieder in den Dreck. Dort, wo wir wie gesagt hingehörten.

-Absatz-

Es war später Abend und wir stapften, mit einer Gasmaske am Kopf und einem Regenumhang eingehüllt in Reihe über den schneebedeckten Boden eines Fichtenwaldes. Sowohl Mittag- als auch Abendessen hatten wir unter freiem Himmel eingenommen. Aus unseren rostigen, fett­verschmierten, dreckigen Eßgeschirren. Es kam mir vor, als ob dieser Tag niemals enden wollte. Der Schweiß, der sich unter der Gummischicht der Gasmaske angesammelt hatte, begann auf der Haut zu brennen. Ich reduzierte den Abstand zu meinem Vordermann auf drei Schritte, da ich in der Dunkelheit Angst hatte den Anschluß zur Gruppe zu verlieren. Selbst die eigene Hand vor Augen war nur mehr schwer zu erkennen, also orientierte ich mich ausschließlich nach Geräuschen. Pepper hatte uns darüber belehrt, wie wichtig das Training mit der Atomschutzausrüstung sei. Diese Aussage war genauso verlogen wie das ganze System für das er arbeitete. Wer glaubte, dass eine undichte Gasmaske, ein löchriger Regenschutz und ein paar Wollhandschuhe radioaktive Strahlung von unseren Körpern abhalten würde, war ein Idiot. Dieses ganze sogenannte Training hatte nur den Zweck uns noch mehr fertig zu machen. Solange bis wir vor Erschöpfung zusammenbrechen würden. Sollte jemals eine Atombombe geworfen werden, wäre ich der erste, der sich seine Maske herunterriß um eines schnellen Todes zu sterben, anstatt in dieser dilletantischen Kluft langsam zu verrecken. Diese Ansicht behielt ich aber, wie so viele andere auch, für mich. Ihnen ihre Unfähigkeit vor Augen zu führen hätte sie gerade noch wütender und unkontrollierbarer gemacht. Stillschweigend sich seinem Schicksal ergeben war angesagt. Mit der Zeit begann sich mein Kopf auf fast unerträgliche Weise zu erhitzen und ich be­kam kaum noch Luft. Doch die Gasmaske abnehmen kam nicht in Frage. Darauf hätte Pepper nur gewartet. Eher würde ich tot umfallen als ihm diese Genugtuung zu geben. Da die Handzeichen des Ausbildners jetzt nicht mehr zu erkennen waren, wurden die Befehle von Mann zu Mann mündlich weitergegeben. Ständig hieß es in Deckung zu gehen, weiterzumarschieren, in Deckung zu gehen, weiterzumarschieren und so weiter. Unser Alltag beschränkte sich auf dieses ewige auf und nieder, Schutzmaske auf und ab und nie waren wir schnell genug um uns eine Pause zu verdienen. Die einzige Abwechslung bietete das Wetter, das dauerd von Schneefall zu Regen, von eisigem Wind zur Flaute umschlug. Von Minute zu Minute verwünschte ich dieses Leben und dessen Stumpfsinnigkeit mehr und mehr. War ich bloß zur Welt gekommen um des Willens anderer zu knechten? Sie steckten einen in den Kindergarten, in die Schule, zum Militär, in einen miesen, unterbezahlten Job der einem die Luft zum Leben raubte und wenn man Glück hatte früh in einen hölzernen Sarg. Ewig war man gefangen. In den Fängen des allherrschenden Systems. Jede Sekunde dieses Daseins war vom Vater Staat minuziös geplant und reglementiert. Jede Sekunde hatte man optimal zu funktion­ieren. Falls es überhaupt ein Ziel in meinem Leben gab, dann war es, dass ich aus dieser Norm irgendwann einmal ausbrechen würde. Doch dieses Ziel schien kaum realisierbar. Nichts schien auf dieser Welt real zu sein. Solange bis man aus seinem Schlaf er­wachte und zu spüren bekam, das dieser Alptraum Wirklichkeit war. Pepper gab Atomentwarnung und wir begannen am Boden liegend unser Gerät abzulegen und zu verstauen. Dann baute sich der Wachtmeister vor uns auf und verkündete, daß die Ausbildung für heute beendet war und wir zu den Fahrzeugen abrückten. Das war die beste Nachricht des ganzen Tages. Pepper musterte uns alle noch einmal und ein leichtes Grinsen kam ihm dabei übers Gesicht. Er war zufrieden mit uns gewesen. Wir hatten funktioniert. Ich haßte ihn nicht. Irgendwie tat er mir sogar leid. Er war nur ein kleines Zahnrad in dieser schwerfälligen Maschinerie. Auch Pepper stand hier unter Druck und fürchtete seine Vorgesetzten. Und seine Vorgesetzten fürchteten wiederum ihre. So ging das rauf. Bis zum höchsten Boß. Und wen fürchtete der? Gott vielleicht? Nein, den mit Sicherheit nicht. Es war schon eine erbärmliche Existenz, die sich die Spezies Mensch aufgebaut hatte. Überall steckte Angst und Argwohn, ewiges treten und getreten werden. Der Hammer-Amboss-Effekt war allgegenwärtig. Bis nach ganz unten, wo sich alles unkontrolliert entlud. Ganz unten, wo ich stand. Wir gingen hinter Pepper im Gänsemarsch her und sprangen schließ­lich auf die bereitstehenden Lastwägen. Ich blickte in die ruß­verschmierten Gesichter meiner Kameraden. Sie sahen jetzt noch ge­brochener, noch verzweifelter, noch desillusionierter als am Morgen aus. Das System hatte sein Ziel erreicht. Wir waren er­ledigt, ausgebrannt, abgekämpft. Niemand würde es wagen Kontra zu geben. Auch ich nicht. Ich fühlte mich nur noch wie eine leere Hülle. Des Geistes beraubt. Nicht einmal der Haß war geblieben. Jegliches persönliches Denken wegrationalisiert. Mit toten Augen starrte ich auf die hölzernen Balken der Platform. Die Bordwand wurde geschlossen, der Motor ging an und wir verschwanden in der Dunkelheit dieser eisigen Nacht.