Sand des Vergessens

 LESEPROBE

 

1

 

Mik streifte mit einer kurzen, gerade geschnittenen Holzlatte den Morgentau von der waagerecht angebrachten, breitflächigen Plane, unter der die anderen noch schliefen. Der Morgen dämmerte und das Gefäß in seiner Hand, mit dem er die kostbare Flüssigkeit auffing, füllte sich spärlich. Es würde gerade für den Morgentee reichen. So wie jeden Tag. Mik stellte den verbeulten und verkohlten Topf auf die verbliebene Glut jenes Feuers, um das sie sich gestern Abend geschart hatten. Es dauerte nicht lange, bis das Wasser zu kochen begann und ohne seine gegerbten Hände vor der Hitze schützen zu müssen, griff er nach dem Pott und stellte ihn in den Sand. Nachdem er eine kleine Menge getrockneter Pflanzen dort hinein zerkrümelt hatte, ging er zu Sus, seiner Frau, und weckte sie.

„Der Tee zieht“, sagte er mit einem kaum vernehmbaren Lächeln auf seinen Lippen. Sus wälzte sich ruckartig, fast erschrocken aus ihrer Decke und stand auf. In eine leicht nach außen gewölbte Steinschale streute sie die bereits am Vorabend aufgebrochenen Hirsekörner und zerrieb diese mit einem harten Stößel aus Holz. Ebenso geduldig wie achtsam. Bis nach schier endloser Monotonie, die nur von einem stetigen Scharren begleitet wurde, die ganze Masse zu Mehl wurde. Mit etwas Wasser aus dem Ziegenlederbeutel, fertigte sie beinahe wie von Zauberhand einen elastischen Teig und rollte diesen, in vier Stücke geteilt, schließlich mit einem abgerindeten Zedernholz auf einer polierten Schieferplatte aus. Anschließend drehte sie den zuvor verwendeten Mörser einfach um und warf ihn in die Glut, wo gerade noch das Teewasser gekocht hatte. Bevor die erste Flade Brot darauf landete, kam Mik mit einem kleinen Eimer voll Milch von den sechs Kamelen zurück, die am Rande des Lagers die Nacht verbracht hatten.

„Lor und Lei werden uns bald im Stich lassen“, gab er zu bedenken, als er seiner Frau das Gemolkene überreichte. Sus nickte. Sie wusste, dass die beiden Weibchen rasch wieder Wasser brauchten. So wie alle anderen auch. Mik blickte in ihr Gesicht und drückte dabei ganz fest ihre Hände. Er wollte etwas sagen, doch im nächsten Moment stand Luk vor ihnen.

„Guten Morgen Vater!“, rief er eifrig aus. „Guten Morgen Mutter!“ Die beiden erwiderten seinen Gruß. Luk war vor etwa hundert Monden geboren. In einem alten Buch, das kaum noch jemand kannte oder verstand, wurde das mit acht Jahren gleichgesetzt. Mik hob seinen Sohn hoch und küsste ihn auf die Stirn. Was waren Monde oder Jahre? Nichts weiter als Begriffe. Nichts weiter als Worte. Luk nahm das erste Fladenbrot in Empfang, das er ebenso gierig verschlang wie den Tee und die Milch, die ihm angeboten wurde. Er hatte sein Frühstück längst beendet und widmete sich den Kamelen, als schließlich auch Jul erwachte. Sie war um die Hälfte der Monde älter als ihr Bruder. Etwa 20 Monde vor dem heiratsfähigem Alter, wie es die Sippe, derer sie angehörte vorsah. Mik tadelte seine Tochter, die sich eher lustlos von ihrem Lager erhob und zur Familie stieß. Doch er tat das nicht über Gebühr.

„Nimm dein Brot und trink deine Milch“, empfahl er ihr stattdessen. „Wir haben heute eine Menge Stunden an Sonne vor uns!“ Der Verweis auf die Sonne, der ewigen Gottheit, löste für gewöhnlich Schrecken aus. Aber nicht bei Jul. Sie spottete, sobald die Familie unter sich war. Frevelte gegen Gott Sol. Mik glaubte auch nicht an Sol. Oder sonstige Götze. Doch er wusste, dass es ratsam war, das für sich zu behalten. Spätestens dann, wenn sie den nächsten Brunnen, die nächste Oase, die nächste Siedlung erreichten. Ehe sie von ihrem Lager zum Weitermarsch aufbrachen, zeichnete Sus noch eine kleine Schlange mit Henna an die beiden Handrücken ihrer Tochter. Alle wussten um die Symbolik dieses Akts.

 

2

 

„Wo gehen wir hin?“, wollte Sus wissen, als sie sich unter der sengenden Mittagssonne zu einer kleinen Rast hinter einem Schatten spendenden Felsen nieder ließen. Nichts als Sand, Stein und Geröll hatte sie den bisherigen Tag über begleitet. Keinerlei Vegetation. Nicht einmal Skorpione oder Sandvipern wagten sich hierher vor.

„Zur Oase Kafir“, war Miks knappe Antwort. Jul, die dieses kurze Gespräch mitbekommen hatte, überlegte. Sie waren vor zehn Tagen von der Oase Taglan aufgebrochen. Demnach mussten sie in drei Tagen in Kafir sein. Jul hatte sich, seit sie dazu fähig war, jede Route eingeprägt, die sie mit ihrer Familie durch diese endlose Wüste gezogen war. Und daher wusste sie auch, dass sie von dieser Oase aus weiter nach Kirum reisen würden. In die größte der drei Städte, die in ihrer Welt lagen. In der Welt jenes Volkes, das sich Kinder Sols nannte.

„Wie findest du den Weg dorthin?“, lächelte Jul ihren Vater an. Er wusste, dass sie ihn schon sehr oft dabei beobachtet hatte, wie er die Richtung des Weges bestimmte, den sie einschlugen.

„Sag du es mir“, lautete deshalb die für seine Tochter verblüffende Antwort. Er hatte sie also durchschaut. Jul streifte mit beiden Händen über das schwarze Tuch, das um ihren ganzen Körper gewickelt war und zog den Stoff vom Kopf tief in ihre Stirn. Dann stand sie auf und begab sich ins gleißende Sonnenlicht. Dort steckte sie einen Stab in den Sand und markierte das Ende des Schattens mit einem Stein.

„Von Taglan nach Kafir reist man in westliche Richtung. Ich warte also, bis der Schatten weit genug nach links gewandert ist und markiere sein Ende am Stab dann noch einmal. Die beiden Punkte verbinde ich mit einer Linie und zeichne im rechten Winkel dazu eine weitere in den Sand. Norden befindet sich dann in Schattenrichtung, Süden entgegen gesetzt. Osten ist links davon und Westen rechts. So wissen wir, wohin wir gehen müssen.“ Jul konnte hinter Turban und Gesichtstuch keine Mimik an ihrem Vater erkennen, doch anhand seiner strahlenden Augen wusste sie, dass er gerade sehr stolz auf sie war. Und sie war stolz darauf, dass er ihr diesen kleinen Vortrag gestattet hatte.

„Komm wieder zurück hinter den Felsen“, ermahnte sie ihre Mutter, wieder aus dem Rampenlicht zu treten. Ein Nomade der Wüste musste mit seinen Kräften haushalten. Und seinen Linsenbrei essen, den es mittags zumeist in Verbindung mit einem Stück Fladenbrot, einer Handvoll Datteln und einem großzügigen Becher Wasser gab. Luk war unterdes bereits wieder bei den Kamelen. Er fühlte sich magisch zu diesen Trampeltieren hingezogen. Und sie umgekehrt im gleichen Maße, wie es schien. Sie kauerten auf ihren Knien hockend eng zusammen unter der schattenspendenden Plane, die das Familienoberhaupt vor der Rast aufgebaut hatte. Die Kinder ritten tagsüber auf den beiden Weibchen, Sus und Mik auf den schwächeren der vier Männchen und die beiden größten Tiere, darunter der Leitbulle, schleppten die Habe der Familie von Station zu Station ihres rastlosen Lebens. Luk schmiegte sich an den Hals des dominanten Männchens und kraulte durch sein Fell, das eher einem dicken Teppich glich.

„Du hättest wohl lieber mehr Weibchen um dich, Mo?“, fragte er mit kindlichem Scharfsinn. Die wenigen wildlebenden Kamele, die sie von Zeit zu Zeit auf ihren Streifzügen durch die Wüste beobachteten, bildeten zumeist einen Harem mit nur einem Pascha als Anführer. Der Mensch nahm auf solch natürliches Sozialverhalten keine Rücksicht. Was den Jüngsten der Familie nicht unbedingt mit Freude erfüllte. Zu sehr verstand er den archaischen Drang, der in diesen Tieren steckte. War dieser doch von der gleichen Inbrunst erfüllt, wie er sie selbst in seiner jugendlichen Unbeschwertheit verspürte. Als Mik kam, um die Plane abzunehmen, war das das Zeichen zum Aufbruch. Luk nahm Mo am Kopfgeschirr und zog ihn hoch. Das war das Signal für die anderen, ebenfalls aufzustehen. Sol schickte seine unbarmherzigen Strahlen zur Erde, während sie ihren Weg fortsetzten. Sich immer im Kreise drehten. Von Brunnen zu Brunnen, von Oase zu Oase, von Stadt zu Stadt.

 

3

 

Die Oase Kafir lag in einer Senke zwischen zwei mächtigen Dünenwänden. Das Wasserloch in der Mitte war nicht rund, sondern weit in die Länge gezogen und es dauerte ungefähr solange wie die Rasur mit einer von Miks Glasscherben, um es im Laufschritt zu umrunden. An den sehr kurz gewachsenen Palmen, die das komplette Ufer säumten, hingen rotbraune Datteln, die zum Teil bereits abgefallen waren und im Sand lagen. Die herbstliche Tag und Nacht Gleiche war schon überschritten, wie Mik andeutete, als sie ihr Lager aufschlugen und die Tiere zum Wasser führten. Während die Kinder zum Sammeln von Früchten und Brennstoff geschickt wurden, entfachte er ein kleines Feuer und beobachtete seine Frau bei der Erfüllung ihrer Pflichten. An der gegenüberliegenden Seite der Oase lagerte eine Gruppe von vielleicht sechs oder acht Personen. Allesamt in weiße Tücher gehüllt.

„Leute aus Kirum. Vermutlich auf der Heimreise.“ Sus nickte und stampfte weiter in ihrem Mörser. Die Menschen, die vielleicht zwei Steinwürfe von ihnen entfernt lagerten, hatten kaum Hab und Gut bei sich, soweit man das erkennen konnte. Demnach kamen sie von einer wenig erbaulichen Handelsreise zurück in ihre Stadt. Und machten hier ein letztes Mal Rast, ehe sie wieder heimkehrten. Kirum war eines der Zentren der Welt, in der sie lebten. In dieser Siedlung wurde Metall in Form gebracht. Und einmal im Jahr fanden dort die großen Wettkämpfe zu Ehren Sols statt. Woran auch Mik einmal teilgenommen hatte. Und einen der vier begehrten Preise gewann. Doch das war Vergangenheit. Was zählte, war die Gegenwart. Und das Miks Familie schwarze Kleider trug. Die Tracht der Nomaden. Die stets argwöhnisch betrachtet wurde.

 

4

 

Sie näherten sich vorsichtig und als ihr Ankommen nicht länger zu ignorieren war, erhob sich einer der in weißen Tüchern gekleideten Männer und trat ihnen forsch entgegen.

„Was führt euch in unser Lager?“, wollte er dem Brauch nach wissen. Doch der Ton, der hinter dieser obligatorischen Fragestellung lag, ließ keinen Zweifel offen. Auch Mik wusste das und er hatte es gar nicht anders erwartet. Nichts desto trotz war er nach den Sitten dazu verpflichtet, sich als Neuankömmling in einer Oase den bereits Anwesenden im Gruße zu nähern. Zudem erschien es nie von Nachteil, sich einem Tross anzuschließen, wenn es durch die Wüste ging. Dahingehend wollte er auch seine Fühler ausstrecken.

„Wir kommen in Freundschaft. Und bitten um eure“, antwortete er und die Familie machte eine tiefe Verbeugung. Die Augen des Mannes, der ihm gegenüberstand, funkelten ihn feindselig an. Der Bart, der von seinem Kinn hing war ebenso lang wie der Dolch an seinem Gürtel. Und nur der Brauch schien ihm davon abzuhalten, diesen auch zu zücken. Stattdessen erwiderte er das höfliche Ansinnen Miks mit einer Drohung.

„Meine Brüder hier“, und er machte dabei eine ausladende Geste, „brechen bald wieder auf. Wir sind in Eile. Und können keine Rücksicht auf Frauen und Kinder nehmen, wie du sie mit dir führst. Wenn dir aber nach einem Schluck Tee und einem Bissen Brot der Sinn steht, so sollst du freilich eingeladen sein.“ Dabei lachte er auf, schritt zum Feuer und warf einen Kessel vom Feuer in Miks Richtung. Ebenso wie die Fragmente eines Fladenbrots. All das blieb nur wenige Handbreit von der Familie entfernt liegen. Luk, der immer mit einem gesegneten Appetit versehen war, wollte zu den ihm zugeworfenen Krumen eilen, doch sein Vater gebot ihm Einhalt.

„Wir danken euch“, antwortete er, den Arm seines Sohnes fest haltend, „und wünschen euch alles Glück dieser Welt bei der Weiterreise.“ Dann drehte er sich um und ging mit seinen Lieben davon.

 

5

 

Mik visierte am Boden liegend über das Ende eines in den Boden gerammten Stockes den hellsten Stern am Nachthimmel an und beobachtete darauf seine Veränderung. Dieses Ritual pflegte er stets, wenn es ihm nicht gelang einzuschlafen. Wenn die Erschöpfung des Tages nicht reichte Ruhe zu finden. Oder er seine Verantwortung gegenüber der Familie nicht länger zu stemmen wusste und Rat in höheren Sphären suchte. Der Stern am Himmel bewegte sich mit der Zeit etwas tiefer nach unten und Mik positionierte ein weiteres Stück Holz im Sand. Da kam Jul an seine Seite.

„Wie dieser Stern gehen auch wir morgen nach Westen“, konstatierte sie mit einem Lächeln auf den Lippen. Mik nickte resigniert.

„Die Kamele bräuchten einige Tage Pause. Wir auch. Doch das kann gefährlich werden, wie du heute gesehen hast.“ Jul wusste, was ihr Vater meinte, doch sie verstand es nicht. Und darum fragte sie nach. Mik fand seine Tochter großartig. Niemand redete ein Wort zu viel in dieser Welt. Niemand wollte irgendetwas wissen. Es war so, wie es war. Nur Jul schien das nicht zu akzeptieren. „Sie wollen uns eben nicht da haben“, fasste es das Familienoberhaupt zusammen.

„Warum?“, bohrte Jul nach. „Die Oase gehört uns allen.“ Mik strich ihr zärtlich übers Haar, während der Mond über den Dünen leuchtete.

„Weil wir Nomaden sind. Und in ihren Augen für alles verantwortlich sind, was nicht in ihrem Sinne ist. Aber sie müssen uns wohl oder übel auch dulden. Da wir auf unseren Märschen durch die Wüste Boten für sie sind. Boten und Händler. Und weil wir dem vierten Stamm Sols angehören. Wofür sie uns nicht töten können, ohne dafür die Strafe in Mokkado fürchten zu müssen.“

„Bist auch du ein Bote?“, wollte Jul von Mik daraufhin erfahren. Er lachte. Ja. Er war es. Und er war froh darüber, dass sie ihn nicht gefragt hatte, warum man die Nomaden wirklich hasste. Das würde früh genug kommen.

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