Letzter Elfmeter

Der Autor:

Michael Koller, geboren am 14. März 1972, lebt in Hoheneich bei Gmünd im Waldviertel. Nach Abschluss der Handelsakademie war er in unterschiedlichen Berufszweigen tätig und lernte so den Facettenreichtum des Lebens bestens kennen. Seine Leidenschaft war und ist das Schreiben. Zeitungsartikel, Kurzgeschichten, Gedichte, Romane und Internetblogs umreißen das Repertoire des Enfant Terribles der Waldviertler Schreibzunft. Nach dem Debütroman "Fallstricke" und den beiden Thrillern "Clara" bzw. "Jagd im Olivenhain" etabliert sich Michael Koller mit "Letzter Elfmeter" als Autor niveauvoller Spannungsliteratur. Schön und grob. Harsch und liebevoll. Kaum alltäglich. Damit sind die Leitmaximen von Michael Kollers Schaffen treffend umschrieben.

Kurzbeschreibung:

Das Verbrechen kehrt nach Alt-Mürren zurück. Der Besitzer des Technologieunternehmens Maurer IT wird mit dem Gesicht nach unten auf dem Elfmeterpunkt am Sportplatz des SV Alt-Mürren gefunden. Der Lokaljournalist Michael Wörner, der vor Jahren den Mord an Landrat Fuhrmann aufklären konnte, beginnt auf eigene Faust zu ermitteln und fördert dabei die unterschiedlichsten Tatmotive ans Tageslicht. Denn Karl Maurer hat sich eine stattliche Anzahl von Feinden in beinahe allen Bereichen der Gesellschaft gemacht. Letzter Elfmeter - ein Waldviertler Kriminalroman über Fußball, Politik, Geld, Sex und natürlich Mord.

Einschätzung:

Der Nachfolgekrimi von "Fallstricke" ist ein Wiedersehen mit vielen alten Bekannten und glänzt einmal mehr durch einen spannenden Plot, der den Leser bis zuletzt in Atem hält. Der Hauptprotagonist gerät dabei, unterstützt und gleichermaßen auch getrieben von seinen Weggefährten, einmal mehr in einen wahren Sumpf menschlicher Moralanschauungen und verliert zunehmend die Übersicht über diesen vertrackten Fall. Ein neuer Waldviertel-Krimi, der nicht nur Fußballfans begeistern wird.

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Presseinformation:

LESEPROBE

Tag 1


Die letzten Wochen waren im Hause Wörner durchaus turbulent gewesen. Meine Tochter Julia hatte sich nicht entscheiden können, ob sie nach dem Abschluss der Volksschule im Herbst aufs Gymnasium oder in die Hauptschule wechseln sollte. Beinahe täglich war sie darüber zu einem anderen Entschluss gekommen. Immer bedingt durch die diesbezüglichen Absichten ihrer Schulfreunde. Das ging solange, bis meine Frau Susan ein Machtwort gesprochen und sie tags darauf im Gymnasium angemeldet hatte. Als diese Frage nach langem Gezerre geklärt war, stand der Einzug meines Schwiegervaters in unser großes Haus in Alt-Mürren an. Moritz Späth war nach gut 40 Jahren bei der Wiener Kriminalpolizei pensioniert worden und wollte seinen Lebensabend nun im heimatlichen Waldviertel verbringen. Da er momentan kein geeignetes Quartier fand und sowohl Susan als Krankenschwester, wie auch ich als Zeitungsreporter ganztägig im Berufsleben standen, hatten wir ihn schließlich dazu überreden können, bis auf Weiteres bei uns zu wohnen. Das war ein gutes Arrangement, da wir nun rund um die Uhr jemanden zur Betreuung Julias hatten und damit nicht länger die Gutmütigkeit unserer Nachbarin Gerti Wallner strapazieren mussten. Moritz war ein Schwiegervater, wie man ihn sich nur wünschen konnte. Immer wohlwollend und zurückhaltend den Vorkommnissen in der Familie gegenüberstehend. Und hatte er Kritik,  brachte er sie in seinem berufsbedingten Scharfsinn so rüber, dass niemand Zweifel an der Vernunft seiner Worte hatte. Nichts desto Trotz war seine Übersiedelung mit einigem Ärger verbunden gewesen. Was nicht zuletzt daran lag, dass auch ich selbst hatte mit anpacken müssen und in insgesamt drei Fuhren mit einem gemieteten Kleintransporter die Habe unseres Logisgastes in sein neues Heim verbrachte. An einem wunderschönen Wochenende Anfang Mai bei strahlendem Sonnenschein. Der Rücken schmerzte mir noch Tage später. Als auch diese Unwägbarkeit überwunden war und der Alltag langsam wieder Einzug hielt, passierte etwas, wonach wir uns schon so lange gesehnt hatten und eigentlich gar nicht mehr so recht daran glaubten. Susans Periode blieb aus und nachdem wir einige Tage gewartet hatten, brachte uns ein Test aus dem Drogeriemarkt Gewissheit. Ich war darüber derart glücklich, dass ich tagelang vor mich hinschwelgte und meine berufliche Tätigkeit dabei etwas zu kurz kam. Doch als Chefredakteur der „Regionalzeitung“ konnte ich es mir leisten, auch einmal neben der Matte zu stehen. So ging also der Mai seinem Ende entgegen. Das Wetter war prächtig, im von Susan akkurat gepflegten Garten gediehen die Pflanzen und als ich eines Morgens früh aufwachte und zu meiner täglichen Laufrunde antrat, schien das Leben schöner und verheißungsvoller denn je. Ich machte meine übliche sechs Kilometer Schleife und überdachte dabei Dinge, die mir spontan durch den Kopf gingen. Mit 45 Jahren auf dem Buckel ging nicht mehr alles so leicht wie früher von der Hand. Zumal es auch Zeiten in meinem Leben gab, wo ich meinem Körper mehr Schaden zugefügt hatte als nötig gewesen wäre. Ich passierte den Wendepunkt an einem alten Wegkreuz und kam im Geiste auf die Ereignisse zurück, die vor etwa drei Jahren meinem Leben eine neue Wendung gegeben hatten. Hin zu dem Mord an den einflussreichen Landespolitiker Ernst Fuhrmann und der Entwicklung dieser Affäre, die ich damals hautnah als Berichterstatter beim „Wochenblatt“ miterlebte. An all die Abgründe, die sich dabei auftaten. Was sowohl Gesellschaft, Wirtschaft, wie auch Politik betraf. Gesichter von Menschen tauchten vor mir auf, die ich lieber vergessen wollte. Darunter auch jenes von Markus Hirscher, der sich nach dem Fall zurückgezogen hatte und mir die zuvor von ihm selbst bekleidete Stelle des Chefredakteurs der „Regionalzeitung“ zukommen ließ. Ich hatte in Zusammenhang mit diesem verwickelten Mordfall, der offiziell nie gelöst werden konnte, meine Unschuld verloren. Meine Unschuld, vielleicht auch meine Integrität. Aber sicherlich nicht meine Ehre und meinen Anstand. Was damals passierte, war womöglich unabänderlich gewesen. Und hätte ich nicht mitgespielt und mein Wissen preisgegeben, wäre ich mit Garantie von den Mühlen zermahlen worden. Denn die Menschen suchten zwar immer nach der Wahrheit, wenn man sie jedoch darauf stieß, leugneten sie diese in der Regel. Weil die Wahrheit nicht dazu geeignet war unser Gewissen zu beruhigen. So blieb also all der Dreck unterm Teppich, der in Folge des Tötungsdeliktes Fuhrmann nur sehr kurzfristig ans Tageslicht befördert wurde. Nichts hatte sich seitdem geändert. Noch immer saßen die maßgeblichen Leute an den Hebeln. Ich wischte mir mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und drückte die inzwischen locker gewordenen Kopfhörer des MP3-Players wieder fest in meine Ohren. Eine zeitlang hatte ich überlegt, diese Affäre als Roman niederzuschreiben. Selbst einen Titel hatte ich dafür schon gehabt. Fallstricke. Doch ich unterließ es, weil es nicht nur all die darin verstrickten Menschen in ein schiefes Licht bringen würde, sondern letztlich auch mich selbst. Und womöglich sogar meine Familie, die von all dem gottlob viel zu wenig wusste. Obwohl mich Susan immer wieder einmal mit einem etwas merkwürdigen Blick bedachte, wenn in den letzten Jahren Wörter wie „Erpressung“, „Korruption“ oder „Vorteilsnahme“ fielen. Doch meine Frau liebte mich viel zu sehr, um die damaligen Ereignisse, in die auch sie am Rande hineingeriet, wieder aufzuwühlen. Es war vorbei und das Leben ging weiter. Daran hatte auch der Tod einer politischen und wirtschaftlichen Lichtgestalt wie Ernst Fuhrmann nichts ändern können. Ich kam bei unserer Gartentür an und stoppte die Zeit. Gut eine Minute langsamer als meine Bestmarke. Zurück im Haus entledigte ich mich meiner Sportklamotten und stieg unter die Dusche. Es war Sonntagmorgen und alles schlief. Susan hatte noch einige Wochen Dienst, ehe man sie hoffentlich in Frühkarenz schreiben würde. Sie war aber aus dem normalen Turnus auf der Intensivstation herausgenommen worden und arbeitete seitdem lediglich zu Bürozeiten am Empfangspult der Station. Die Wochenenden gehörten im Regelfall also ganz uns. Moritz verbrachte sehr viel Zeit mit Julia, die es genoss ihren fürsorglichen Großvater um sich zu haben und ich tat meine Pflichten als Redaktionsleiter der „Regionalzeitung“. Ich trocknete mich mit einem großen Flanellhandtuch ab und machte mich auf den Weg in die Küche. Das Frühstück an einem Sonntagmorgen war mit die schönste Zeit während der ganzen Woche. Dampfender Kaffee, Wurst, Käse, Eier, Speck und knusprige Croissants aus dem Backofen. Ich machte mich gerade ans Werk, als mein im Vorzimmer  liegendes Handy vibrierte. Auf lautlos gestellt und doch hörbar genug, um es in der Stille des Hauses wahrzunehmen. Das Display leuchtete. Klaus Zöhrer. Der Platzwart des Sportvereins Alt-Mürren. Ich war seit vielen Jahren im regionalen Fußballgeschehen aktiv. Zuerst in der angrenzenden Stadt beim wieder erstarkten SC Mürren. Dann nach einigen internen Querelen ging ich zurück zu meinem Heimatverein, bei dem ich nach und nach mehr Verantwortung übernahm und neben meiner Funktion als Betreuer der Vereinshomepage auch als Schriftführer fungierte. Ich war immer ein leidenschaftlicher Fußballfreund gewesen und wollte mit diesem ehrenamtlichen Engagement meinen Beitrag zum gesellschaftlichen Leben in Alt-Mürren leisten. Kritiker gab es viele. Leute, die sich einer Verantwortung stellten jedoch nur wenige. Ich hatte bei diesem kleinen, herzlichen und familiär geführten Verein viele Freunde gewonnen und die paar Stunden Tätigkeit pro Woche waren mir sehr lieb geworden. Ich konnte dabei entspannen, den Kopf frei kriegen und ein Stück weit auch den Alltag hinter mir lassen. Julia und Susan neckten mich oft ob dieser Leidenschaft, aber sie gönnten mir diese, da sie unser Familienleben nicht weiter beeinträchtigte. Es war mein ganz persönliches Refugium, mein Rückzugsraum in dem ich sehr oft wieder zu mir selbst fand. Mit einem sanften Druck auf den grünen Telefonhörer nahm ich das Gespräch an.
„Servus Klaus“, grüßte ich ohne zu wissen, was er eigentlich an einem Sonntagmorgen von mir wollte.
„Servus“, erwiderte er kurz. Am Tonfall seiner Stimme registrierte ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Beinahe keuchend sprach er weiter. „Ich glaube, bei uns am Sportplatz liegt ein Toter.“ Leicht geschockt wartete ich auf weitere Erklärungen, doch mein Gegenüber blieb stumm. Ein Toter am Sportplatz des SV Alt-Mürren, der ziemlich abgelegen nahe der Grenze zu Tschechien lag? Das mochte mir nach kurzer Überlegung nicht ganz eingehen.
„Wo denn?“, fragte ich vorsichtig. Ich wollte Klaus nicht unbedingt sagen, dass ich ihm nicht glaubte. Andererseits war es für einen solchen Scherz noch viel zu früh und unser Platzwart war auch nicht als exzessiver Säufer bekannt, der die Nacht zum Tage machte.
„Mitten im Strafraum. Genau am Elfmeterpunkt.“ Das Spielfeld war mit einem hohen Zaun vom Rest des Areals getrennt, die Tür dazu stand aber immer offen. Bevor ich ihn fragen konnte, wo er sich gerade befand, kam er diesem Ansinnen zuvor. „Ich bin mit dem Rad zum Platz rüber gefahren, um die Bewässerung einzuschalten. Momentan ist das aufgrund der frühsommerlichen Hitze schon recht zeitig am Tag notwendig. Außerdem wollte ich nach dem Rechten sehen, ob unsere Jungs gestern nicht über die Stränge geschlagen haben.“ Wir, sprich der SV Alt-Mürren, hatten tags zuvor einen Derbysieg über Murdorf eingefahren und damit zwei Runden vor Saisonende den Klassenerhalt fixiert. Der Gang in die Schutzgruppe wurde also ein weiteres Jahr abgewendet und umso ausgelassener war danach selbstredend die Feier. Auch ich war bis etwa zehn Uhr abends mit dabei gewesen. Da begannen sich die Meisten aber gerade erst in Fahrt zu trinken. Es würde also noch eine ganze Weile gedauert haben, bis die Letzten von dort verschwunden waren und im Vereinslokal bei Wirt Thomas Maier bis in die frühen Morgenstunden weiter zechten. So war es zumindest der Brauch. Mir kam ein Gedanke.
„Vielleicht ist einer im Rausch liegen geblieben und muss erst unsanft geweckt werden.“ Das war keineswegs abwegig und eine andere Erklärung hatte ich nicht.
„Von uns ist das keiner. Ich habe mehrmals auf ihn hin geschrien, aber es kam keine Reaktion. Dann wollte ich schon aufs Feld hinein gehen um genauer nachzusehen, besann mich aber. Wegen der Spuren und so.“ Das war ziemlich geistesgegenwärtig, handelte es sich dabei wirklich um eine Leiche. Was ich aber immer noch nicht glaubte. Zöhrer fuhr fort. „Der Mensch dort ist tot. Da habe ich keinen Zweifel. Um die Zeit ist keiner mehr so besoffen, dass er gar nichts wahrnimmt. Sich nicht einmal rührt. Mit dem Kopf im Gras. Aber darum rufe ich dich ja an. Weil ich mir ziemlich sicher bin, denjenigen zu kennen. Ich müsste mich schon sehr täuschen. Aber für mich schaut der aus wie Charly Maurer.“ Bei diesem Namen war ich wie vom Donner gerührt. Karl Maurer. Chef und Inhaber der Maurer IT. Mit seiner innovativen Glasfasertechnologie hatte das Unternehmen über die Landesgrenzen hinaus für Aufsehen gesorgt. In den letzten Jahren ging aber etwas der Lack ab und hätte man nach Ernst Fuhrmanns Tod nicht doch noch den Großauftrag für das neue, inzwischen fertig gestellte Grenzlandspital in Mürren erhalten, wären womöglich die Lichter ganz ausgegangen. Zuviel Geld hatte man damals in das Projekt bereits im Vorfeld gesteckt und sah sich durch Fuhrmanns Wendehalspolitik plötzlich um das Stück am Kuchen betrogen. Der Mord an dem Landrat hatte Karl Maurer aus der Bredouille geholfen. Ich riet Klaus Zöhrer, augenblicklich die Polizei zu rufen und alles unverändert zu lassen. Falls er Recht hatte, war der Tatort noch nicht von Fremdspuren kontaminiert. Andererseits hatte ich wenig Hoffnung, dass die örtliche Exekutive seinen Ausführungen glauben schenkte. Die würden nach etlichen Beschwichtigungsversuchen dann doch losziehen, wie eine Büffelherde übers Gras laufen, versuchen den Toten zum Leben zu erwecken und nach getanem Werk die Kripo verständigen. Für mich gab es jedenfalls kein Vertun. Der Platzwart hatte an mich gedacht, damit ich die Story als erster in Augenschein nehmen konnte. Falls es überhaupt eine Story und nicht nur ein ins Koma gesoffener Fußballfan war. Dennoch. Ich musste dem auf den Grund gehen. Zudem hatte ich Klaus stets als besonnenen Menschen erlebt, der keineswegs zur Hysterie neigte. Ohne großen Rabatz zu machen zog ich mir die als nächstes greifbare Kleidung an, hinterließ einen kleinen Zettel mit meinen Absichten am Kühlschrank und trat kaum trocken von der Dusche wieder ins Freie.

*

Ich traf beinahe gleichzeitig mit einem Streifenwagen der Polizei ein und parkte mich demonstrativ neben diesen. Das Sportplatzgelände lag am Rande eines dichten Föhrenwaldes, schräg vis-a-vis eines Grenzübergangs zur Tschechischen Republik. Getrennt nur durch einen Schienenstrang der hiesigen Schmalspurbahn und der Bundesstraße, die in der einen Fahrtrichtung nach Mürren, entgegengesetzt nach Remsch führte. Gestern hatte hier noch der Bär gesteppt, nun breitete sich wieder eine mystische Stille über das Areal. Eine Totenstille, um es genau zu sagen. Eine Totenstille, die urplötzlich durchbrochen wurde, als ich aus meinen brandneuen Dacia Sandero stieg. Eine scharfe Stimme sprach mich in barschem Ton an. Revierinspektor Gerber, ein wahrhaft schwarzes Schaf seiner Zunft. Einige Dienstvergehen und Strafversetzungen hatte er bereits hinter sich und wurde dennoch weiterhin auf die Öffentlichkeit losgelassen. Ich fragte mich oft, wie ernst ein Staat noch genommen werden konnte, der derlei Kantonisten in seinen eigenen Reihen duldete. Ich erinnerte mich daran, wie sich mein Vorgänger Markus Hirscher dieses Menschen immer wieder bedient hatte. Stets unter dem Tatbestand der Erpressung. Was natürlich voraussetzte, dass eine Person in solchem Stand überhaupt erpressbar wurde.
„Was wollen Sie denn hier?“ Die Anwesenheit der Presse war ihm sichtlich unangenehm. Zumal sie zur selben Zeit wie die Exekutive selbst hier eintraf. Da ich nicht vor hatte, mich auf lange Diskussionen mit diesem Unflat einzulassen, grüßte ich seinen Kollegen, und nur diesen, betont freundlich und erklärte, dass ich in meiner Eigenschaft als Hauptfunktionär des SV Alt-Mürren hier sei und schon deshalb ein ureigenes Interesse an den Vorgängen am vereinseigenen Platz hätte.
„Komm“, sagte Gerber kurz zu dem anderen Polizisten und machte sich einigermaßen zornig auf den Weg zu Klaus Zöhrer, der bereits am Eingangstor zum Spielfeld wartete. Ich heftete mich in knappen Abstand an ihre Fersen, begrüßte mit einem leichten Nicken meinen Vereinskameraden und harrte der Dinge, die nun unweigerlich folgen mussten. Gerber hielt sich nicht mit Höflichkeitsfloskeln auf und kam direkt zur Sache. Es wurmte ihn offensichtlich, von der morgendlichen Sonntagsjause weggerufen worden zu sein, um einer Bagatelle wie der Meldung eines mutmaßlich toten Menschen nachzugehen.
„Nun, wo ist Ihre Leiche?“, wollte er wissen, obwohl von hier bereits klar zu erkennen war, dass in der Nähe des sogenannten Heimtores ein regloser Körper lag. Klaus deutete darauf hin und Gerber nickte leicht. Also doch keine Sinnestäuschung eines Platzwartes, der bereits frühmorgens seinen Pflichten nachkam. „Na, das haben wir gleich.“ Ohne weitere Fragen zu stellen öffnete er das Aluminiumgatter und die beiden Polizisten begaben sich auf den Rasen. „Sie bleiben hier!“, befahl er. Wie ich es mir gedacht hatte. Klaus führte mich vor das Kabinengebäude, wo man einen besseren Blick auf die Geschehnisse hatte. Während ich meine digitale Spiegelreflexkamera aus der mitgeführten Tasche holte, das Objektiv mit großer Brennweite aufsetzte und zu fotografieren begann, war auch ich mir sicher, dass dieser Mensch dort tot sein musste. Und die von Zöhrer angesprochene Ähnlichkeit mit Karl Maurer war ebenfalls frappierend. Soviel man eben erkennen konnte. Die Polizisten gingen etwas unbeholfen an die Sache heran. Stießen den Körper mit ihren Fußspitzen leicht an und als sie keinerlei Reaktion darauf erfuhren, beugte sich Gerber runter und drehte ihn um. Er griff auf die Halsschlagader des Mannes, horchte kurz auf eine mögliche Atmung und stand dann wieder auf. Ich zoomte so nah wie irgend möglich auf den Kopf und hatte Gewissheit. Ja, es war Charly Maurer. Daran gab es nicht den geringsten Zweifel.
„Du hattest Recht“, teilte ich dem Platzwart mit. Dann heftete ich meine Augen auf die beiden Vertreter der Staatsgewalt. Sie schienen miteinander zu diskutieren und schließlich zog einer der beiden sein Funkgerät aus dem Hosengurt. Ich konnte nicht alles hören, was er dort hineinsprach, aber es reichte um Bescheid zu wissen. Die Wörter „Ermordet“, „Maurer“ und „Kripo“ waren unmissverständlich. Ich ging nun ganz nahe an den Zaun und suchte über das Okular meiner Kamera den Leichnam ab. Doch ich fand nichts was auf Gewalteinwirkung hinwies. An Kopf und Oberkörper waren keine Verletzungen zu sehen. Auch nicht, als sich der Tote noch in Bauchlage befand. Ähnlich wie vor drei Jahren packte mich das Jagdfieber. Und damals wie heute war es persönlich motiviert. Der Fuhrmann-Mord berührte meine eigene, ganz individuelle Vergangenheit und dieses Mal ging es um den Sportverein Alt-Mürren. Gerber kam auf mich zu und forderte mich durch den Maschendrahtzaun auf, das Fotografieren augenblicklich einzustellen. Mir war zwar nicht bekannt, dass ein Gesetz das verbieten würde, kam diesem Ansinnen oder besser gesagt, diesem Befehl dennoch nach. Zumal ich derlei Fotos in einem Blatt wie der „Regionalzeitung“ ohnehin nicht veröffentlichen konnte. Der Aufschrei der Entrüstung wäre groß, wenngleich auch nicht wirklich ernstgemeint gewesen. Die Leute behaupteten zwar stets nicht sensationslüstern zu sein, waren es in Wahrheit jedoch sehr wohl. Bevor sich die beiden Uniformierten wieder zu uns gesellten und dieses Mal wohl oder übel Fragen stellen mussten, nahm ich Klaus Zöhrer zur Seite.
„Du weißt, was das für unseren Verein bedeutet?“ Er nickte nachdenklich. „Also kein Wort zur Polizei darüber. Wenn sie es nicht von selbst erfahren, werden wir sie nicht darauf stoßen.“ Bereits während ich dies aussprach war ich mir im Klaren darüber, wie sinnlos dieses Unterfangen war. Denn schon morgen würden es die Spatzen von den Dächern pfeifen. Judase gab es überall und erst recht im Umfeld eines Sportvereins. Neid und Missgunst standen in diesem Geschäft hoch im Kurs. Damit musste jeder Fußballclub leben. Denn jeder hatte seine Feinde, die nur darauf warteten aus dem Hinterhalt los zu schießen. Davor war auch das idyllische, harmlose Alt-Mürren nicht gefeit. Und ein ermordeter, auf unserem Sportplatz aufgefundener Karl Maurer war ein Festschmaus für alle, die uns ans Leder wollten. Denn der Getötete war so etwas wie unser Erzrivale. In seiner Eigenschaft als regionaler Wirtschaftszampano zog er als Hauptsponsor die Fäden beim Landesligaklub SC Mürren und wollte den kleinen Bruder in der Gemeinde aus dem Feld schlagen. Mit teilweise unmoralischen Angeboten an einige Funktionäre hatte er für eine Auflösung unseres Vereins geworben. Und dieses Begehren bis zu seinem plötzlichen Ableben stark betrieben. Doch obwohl nicht unbeträchtliche Summen geboten wurden, blieben unsere Leute standhaft und hatten ihn vom Hof gejagt. Nun könnte ein mit diesen Fakten vertrautes Mordermittlungsteam zu dem Schluss kommen, dass man seitens des SV Alt-Mürren diesen Nachstellungen überdrüssig wurde und Maurer ein für alle Mal zum Schweigen brachte. Nachdem der Leichenfundort mit dünnen Eisenpfählen und Plastikbändern abgegrenzt und das Eingangstor zum Platz gesichert wurde, trafen weitere Streifenwagen ein. Klaus sperrte den Aufenthaltsraum neben der Kantine auf und dort wurden an separaten Tischen die ersten Protokolle angefertigt. Gerber hatte es sich nicht nehmen lassen, meine Aussage aufzunehmen. Geschäftig klappte er einen Laptop auf, tippte ein wenig auf der Tastatur herum und legte dann los.
„Das erspart Ihnen den Weg aufs Revier. Zumindest vorläufig. Falls die Kripo weitere Fragen an Sie hat, wird man Sie selbstverständlich dazu vorladen.“ Ich wurde den Eindruck nicht los, dass er mir mit diesen Worten Angst machen oder mich zumindest einschüchtern wollte. Nun, da war er bei mir an der verkehrten Adresse. Ich hatte nichts Unrechtes getan und darum auch keinen Grund ein schlechtes Gewissen zu haben. Schon gar nicht gegenüber jemanden wie Revierinspektor Gerber.
„Selbstverständlich“, antwortete ich betont gelassen. Ich hatte es im Mordfall Fuhrmann mit einem weitaus größeren Kaliber zu tun gehabt.
„Sie sind fast gleichzeitig mit uns hier eingetroffen. Oder vielleicht auch wieder hier eingetroffen. Wie erklären Sie sich das?“ Dieser Kindergartenstil gefiel mir ganz und gar nicht. Aber wenn er es unbedingt wollte, dann sollte er es eben so haben.
„Ja, ich bin wieder hier eingetroffen. Nachdem ich gestern Abend nach dem Spiel gegen Murdorf und der anschließenden Feier um etwa 10 Uhr von hier weggefahren bin. Als Mitverantwortlicher des SV Alt-Mürren komme ich immer wieder einmal am Sportplatz vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Es spricht also rein gar nichts dagegen, dies auch heute getan zu haben.“ Gerber zog die Augenbrauen hoch. Mit dieser Parade hatte er nicht gerechnet. Ich war mir sicher, dass er gerade einen innerlichen Kampf mit sich selbst ausfocht. Er wog zwischen dem Verbleib auf der aggressiven Schiene und der Rückkehr zur Vernunft ab. Auf halber Strecke trafen sich diese beiden Ansätze.
„Sie wurden nicht eventuell telefonisch über die Auffindung einer Leiche unterrichtet?“ Wäre die Sache nicht so ernst gewesen, hätte ich mir ein Schmunzeln kaum verkneifen können.
„Über die Auffindung einer Leiche wurde ich nicht unterrichtet. Nur darüber, dass jemand am Elfmeterpunkt liegt. Aber ja, es stimmt. Ich wurde darüber per Handy informiert. Hätten Sie, wie ich es von Ihrem Amt erwarte, ohne Umschweife danach gefragt, wären wir vielleicht auch schon ein Stück weiter.“ Bevor er darauf etwas erwidern konnte, setzte ich nach. „Wie Sie vielleicht wissen, bin ich als Chefredakteur der ‚Regionalzeitung’ mit den Abläufen in so einem Fall schon berufsbedingt einigermaßen vertraut. In dieser Eigenschaft sitze ich jedoch nicht hier, wenngleich Sie das womöglich unterstellen. Aber lassen wir Spitzfindigkeiten außen vor. Sie wollen wissen, was sich am gestrigen Abend ereignet hat. Stimmt’s?“ Fast kleinlaut nickte er. Na bitte. Vielleicht konnte dieses Gespräch doch noch wie unter normalen Menschen geführt werden.
„Wir haben gestern die Murdorfer durch ein Tor praktisch mit dem Schlusspfiff 3:2 geschlagen und damit vorzeitig auch rein rechnerisch den Klassenerhalt geschafft. Da kann nun kommen was will. Bereits zwei Runden vor Schluss. Was in den letzten Jahren weitaus später der Fall war. Die Freude war unter Spielern, Zuschauern und Funktionären natürlich dementsprechend groß und es wurde einiges getankt. Wenn ich das so umschreiben darf. Die einen blieben kürzer, die anderen länger. Diesbezüglich bin ich die verkehrte Auskunftsperson, da ich wie gesagt eher früh gegangen bin. Da waren meines Wissens noch die meisten Leute von uns anwesend.“ Ich stand auf, holte aus dem Kantinenkühlschrank zwei Flaschen Cola, öffnete diese und stellte sie vor uns hin. Gerber dankte leise. „Warum und weshalb hier eine Leiche liegt, kann ich nicht erklären. Ich verstehe es ehrlich gesagt auch nicht.“ Bevor ich der Form halber fragen konnte, wer die betreffende Person denn sei, kam mir Gerber zuvor.
„Sie wissen ganz genau, wer das dort draußen ist. Durch das Objektiv Ihrer Kamera hätten sie selbst eine Fliege auf seinem Hemdknopf erkannt.“ Touché. Ich lächelte kurz über diese Bemerkung.
„Und doch kann ich es mir nicht erklären.“ Gerber fragte ergänzend zu meinen Personalien, die offensichtlich auf seinem Rechner gespeichert waren, nach der Aktualität meiner Telefonnummer, bedankte sich einsilbig, ohne mich dabei anzusehen und nachdem ich das umständlich ausgedruckte Protokoll kurz durchgelesen und unterzeichnet hatte, begab ich mich wieder nach draußen. Die Kremser Kriminalpolizei war längst informiert und würde in einer guten halben Stunde hier eintreffen. Womöglich bereits etwas früher. Was mich wunderte war, dass sich bislang keinerlei Schaulustige und auch keine anderen Medienvertreter eingefunden hatten. Als Landrat Ernst Fuhrmann seine Münze beim Fährmann in die Unterwelt berappen musste, war ich der Letzte gewesen, der am Ort des Geschehens eintraf, an dem es vor Menschen nur so wimmelte. Karl Maurers Tod würde womöglich nicht so hohe Wellen schlagen wie die Fuhrmann-Sache, eine nicht zu unterschätzende Bedeutung hatte sie aber allemal. Denn nach und nach begannen die Registrierkarten in meinem Kopf zu rattern. Und je länger dieser Vorgang dauerte, desto mehr Motive waren darauf zu erkennen. Zuvor musste jedoch eine andere, weitaus elementarere Frage geklärt werden. Warum war Karl Maurer ausgerechnet mit dem Kopf am Elfmeterpunkt vor dem Alt-Mürrener Heimtor abgelegt worden? Diese Situation wirkte einfach zu gestellt. Auch aus der Distanz war sofort klar, dass Fund- und Tatort keineswegs identisch waren. Da ich darauf keine befriedigende Antwort fand, blickte ich auf die Uhr, machte noch einige weniger verwerfliche Fotos und kehrte schließlich zu meinem Auto zurück. Die Aussichten auf einen gemütlichen Familiensonntag waren dahin. Als Chefredakteur würde ich diese Sache selbst verfolgen müssen. Erfahrungsgemäß war mit einer ersten Verlautbarung seitens der Kripo im Laufe des Nachmittags zu rechnen. Bis dahin würde ich mich im Kreise meiner Liebsten befinden. Gedanklich war ich aber bereits voll auf diese Sache fixiert. Vielleicht begann wieder alles von Neuem. Ich hoffte es nicht. Denn damals war ich der Gefahr nur knapp entkommen. Damals, als ich mit eigenen Augen in die Verderbtheit sah.

*

Als ich daheim eintraf, räumte Susan gerade den Frühstückstisch ab. Ich sah, dass ein Teller mit einem Croissant, einer Semmel, Wurst, Butter und Marmelade sowie ein Glas Orangensaft für mich zum Verzehr bereitstanden. Julia nahm mich an der Küchentür mit einer liebevollen Umarmung in Empfang. Ich hob sie hoch und gab ihr einen Kuss an die Wange. Moritz saß auf der Eckbank, die Sonntagszeitung vor sich.
„Guten Morgen, meine Lieben.“ Susan kam zu mir her und gab mir einen zärtlichen Kuss auf den Mund.
„Dein Frühstück steht bereit. Wenn du magst, lasse ich dir noch einen Espresso herunter.“ Ich nickte dankbar und gesellte mich zu meinem Schwiegervater. Ohne Umschweife kam er zur Sache.
„Na, was war da auf eurem Sportplatz los? Deine Nachricht las sich ja ziemlich mysteriös.“ Ich räusperte mich etwas verlegen, da Julia inzwischen auf meinem Schoß Platz genommen hatte. Ich war mir nicht sicher, ob dies die geeignete Morgenunterhaltung für eine Zehnjährige war. Susan erkannte mein Dilemma.
„Julchen, sei so lieb und laufe kurz zu Tante Gerti rüber. Wir wollen heute Mittag grillen und es wäre nett, wenn sie herüberkäme.“ Meine kleine Tochter sprang augenblicklich auf und machte sich freudig auf den Weg. Gerti Wallner war seit vielen Jahren eine enge Freundin des Hauses und wir mochten sie alle sehr gerne. Besonders Julia, die stets viel Zeit mit ihr verbrachte. Meine Frau hatte bei diesem Manöver jedoch noch einen anderen Hintergedanken als den Offensichtlichen. Sie wollte, dass sich ihr Vater und unsere Nachbarin besser kennenlernten. Beide waren ungefähr im gleichen Alter, beide pensionierte Staatsdiener. Sie war felsenfest davon überzeugt, dass sie zusammenpassten und setzte alles daran, die zwei zu verkuppeln. Was bei Moritz auch auf fruchtbaren Boden zu fallen schien. Zumindest hellte sich sein Gesicht jedes Mal auf, wenn Gertis Name fiel. So auch jetzt. Nun, für eine mittägliche Grillerei würde ich gerade noch Zeit haben. Als ich hörte, wie die Eingangstüre zu unserem Heim geschlossen wurde, ging ich auf die Frage meines Schwiegervaters ein und schilderte die Ereignisse dieses Morgens. Als ich damit schloss, pfiff er leise vor sich hin.
„Na, da hat unser verschlafenes Alt-Mürren ja wieder einen schönen Skandal an der Backe. Und ich dachte, nur in Wien geht es derart zu. Zuerst diese Fuhrmann-Sache und jetzt das.“ Fast resignierend schüttelte er den Kopf. Wohin man sich auch verkroch, das Schlechte in dieser Welt tauchte allerorten auf. Beim Mord an den Landrat war er noch aktiver Kriminaler gewesen. Er hatte mich aber nie nach irgendwelchen Details gefragt. Es war nicht sein Fall und somit mischte er sich auch nicht ein. Das war stets seine Philosophie gewesen. „Beschäftige dich nur mit Dingen, die dich auch etwas angehen. Und kehre stets vor deiner eigenen Tür.“ Unweigerlich musste ich an den Beamten denken, der die Ermittlungen seinerzeit leitete. Major Robert Brettschneider. Ein grobschlächtiger Mensch ohne Manieren und ohne Esprit. Damit hatte er den Fall auch an die Wand gefahren, während es einem unerfahrenen Amateur wie mir gelungen war, die verworrenen Fäden letztlich zu einem Seil zusammen zu knüpfen. Sicherlich mit der tatkräftigen Mithilfe des Mörders selbst, aber immerhin. Ich fragte mich, ob man diesen Brettschneider auch auf den Tötungsdelikt Karl Maurer ansetzen würde. Oder ob man mittlerweile dessen Unfähigkeit erkannt und jemand anderen die Verantwortung übertrug. Nun, das würde ich sehr bald erfahren. Während sich Moritz nachdenklich am Kinn kratzte und im Geiste bereits einige Fragen an mich formulierte, sah mich Susan herausfordernd an.
„Mir ist diese Geschichte mit Ernst Fuhrmann noch in lebhafter Erinnerung. Und der Eifer, mit dem du diese verfolgt hast. Der Übereifer. Und nun schon wieder ein Mord. Noch dazu auf eurem Vereinsgelände. Da schwant mir jetzt bereits Böses.“ Mehr brauchte sie nicht zu sagen. Mich nicht zu ermahnen, nur ja nichts Unbesonnenes zu tun. Es lag auch so unausgesprochen in der Luft. Wir hatten eine kleine Tochter und erwarteten ein weiteres Kind. Ich sollte also meine Arbeit als Chefredakteur erledigen und mich ansonsten von dieser Geschichte fernhalten. Noch während sie ihre Worte an mich richtete, hatte sie immer wieder einmal zu ihrem Vater geblickt und ihn damit aufgefordert, dasselbe zu tun. Und natürlich hatte sie damit auch Recht. Es war nicht unsere Aufgabe, Licht in diesen Fall zu bringen. Dafür wurden andere bezahlt. Und doch lockte dieser Hauch von Abenteuer, der mir plötzlich kaum spürbar um die Nase wehte. Ich war mir sicher, dass es Moritz dabei nicht anders erging. Und am Ende auch Susan selbst. Obwohl sie das natürlich niemals zugeben würde. Mein Schwiegervater blätterte die Zeitung um eine Seite weiter, trank einen Schluck Kaffee und stellte dann ganz unvermittelt eine Frage.
„Was kannst du mir über diesen Karl Maurer sagen?“ Ich musste mir ein Grinsen verkneifen, da ich im Hintergrund hörte, wie Susan ein zusammengeknülltes Geschirrtuch in das Abwaschbecken schmiss. Seufzend rückte sie sich einen Stuhl zurecht und nahm bei uns Platz. Ganz wie ich vermutete.
„Maurer ist einer der größten Arbeitgeber hier in der Region“, begann ich meine Beschreibung. „War in den damaligen Mord verstrickt, hatte aber letztlich nichts damit zu tun.“ Ich musste gegenüber meinen Angehörigen sehr vorsichtig sein, da niemand außer mir und dem Täter die wahren Hintergründe dieses Falls kannten. Und ich war fest entschlossen, diese auch niemals preiszugeben. Denn sie hätten auch mich in ein schiefes Licht gerückt. Und das konnte ich schon alleine meiner Familie gegenüber nicht verantworten. Moritz war daran aber vorläufig ohnehin nicht interessiert.
„Darüber reden wir später. Hatte er Feinde?“ Ich lachte kurz auf.
„In seiner Position hat wohl jeder Feinde. Könnte aber durchaus sein, dass es vielleicht mehr als allgemein üblich waren. Denn er hat ja auch in anderen Metiers ordentlich mitgemischt. Vor allem im Regionalfußball.“ Meinen Schwiegervater konnte, ja musste ich davon erzählen. „Als Hauptsponsor des SC Mürren treibt er den ganzen Vorstand vor sich her. Vor allem rund um den geplanten Stadionbau soll es einige Unstimmigkeiten gegeben haben. Viel ist nicht nach draußen gedrungen, aber er dürfte sich dabei offenbar in- und außerhalb des Klubs keine Freunde gemacht haben. Konkretes weiß ich aber nicht. Die Gerüchteküche brodelt gerade im Bezug auf den Fußball immer stärker als anderswo. Leider gibt es in diesem Zusammenhang auch eine Beziehung zu meinem SV Alt-Mürren.“ Ich erläuterte kurz das Wesentliche. Susan schüttelte dabei fast amüsiert den Kopf.
„Ihr und euer Fußball! Streitet euch rum wie kleine Jungs. Am Sportplatz findet das Erwachsensein stets ein jähes Ende.“ Bevor sie diese Ausführungen vertiefen konnte, schaltete sich Moritz ein.
„Das mag wohl war sein. Ich persönlich habe mich dafür nie begeistern können. Aber eine Tatsache bleibt bestehen. Damit hätte euer Verein schon ein Motiv. Vielleicht kein unerschütterliches, aber immerhin. Leute wurden schon aufgrund geringeren Anlässen getötet.“ Ich nickte leicht vor mich hin. Natürlich hatte er Recht damit. Es würde in jedem Fall Nachforschungen rechtfertigen. Nachforschungen, die dem ganzen Klub nicht zuträglich sein würden, vielleicht sogar böses Blut untereinander schaffen konnten. Mein Schwiegervater sprach weiter. Der Kriminalpolizist kehrte langsam in ihm zurück. „Hol deine Kamera und zeige mir die Fotos, die du vom Tatort gemacht hast.“ Ich hatte das zwar nicht erwähnt, es lag aber auf der Hand. Ansonsten wäre ich meiner beruflichen Stellung kaum würdig gewesen. Ich tat wie mir geheißen und schloss den Fotoapparat an den inzwischen ebenfalls hereingebrachten Laptop an. Moritz besah sich die Bilder am Schirm und schob diesen dann an Susan weiter, die schon begierig darauf wartete. „So wie ich das sehe, ist er da abgelegt worden. Ganz gezielt. Wie heißt das dort? Am Strafstoßpunkt.“ Ich bejahte, obwohl es nicht die korrekte Bezeichnung war. „Nun, das scheint mir ziemlich eindeutig. Eine Bestrafung. Oder liegen Anzeichen auf einen Unfall vor?“
„Die beiden Polizisten haben dahingehend nichts angedeutet. Und wie sollte dort auch ein Unfall passieren?“ Moritz sah mich scharf an.
„Dort nicht, aber dort ist die Tat ja nicht begangen worden. Sondern woanders. Und um euch den Schwarzen Peter zuzuschieben, hat man die Leiche dort abgelegt. Das wäre auch im Zusammenhang mit einem Unfall möglich. Wenngleich ich das beinahe ausschließe. Aber egal. Wer immer das getan hat, wusste um eure Fehde mit Karl Maurer. Daher würde ich mir an deiner Stelle nicht allzu graue Haare wachsen lassen. Zumindest nicht bezüglich des SV Alt-Mürren. Niemand würde wohl so dumm sein, den Verdacht in solchem Maße auf sich selbst zu lenken.“ Das erleichterte mich nur kurz.
„Es sei denn, dass jemand genau diesen Gedankengang der Polizei voraussah.“ Moritz Späth zog seine Augenbrauen hoch. Dann begann er lauthals zu lachen. Sein stämmiger Oberkörper wippte dabei rauf und runter.
„Ja, das wäre natürlich auch denkbar“, begann er weiterhin sehr amüsiert. „In der Praxis aber kaum. So etwas entspringt in der Regel nur dem Geist eines Literaten. Oder eines Journalisten.“ Dabei sah er mich gespielt drohend an. Nun ja, ich zog meinen diesbezüglichen Erfahrungsschatz aus den Kriminalromanen, die Susan und ich regelmäßig lasen, während Moritz auf den Fundus aus der Realität zurückgreifen konnte. Meine Frau schaltete sich wieder ins Gespräch ein.
„Ich finde es interessant, was Maurer da an hat.“ Ein Mann fand das in der Regel weniger und so maß ich dem keine Bedeutung bei. Moritz hingegen war hellwach.
„Was meinst du damit?“ Susan lächelte ob soviel Oberflächlichkeit.
„Die Schuhe sind nicht unbedingt gut zu erkennen, doch ich möchte beschwören, dass es ein italienisches Markenfabrikat ist. Was ebenso auf den dunkelbraunen Anzug zutrifft. Und auch das Hemd sieht sehr vornehm aus.“ Ich verstand immer noch nicht.
„Nun, Charly Maurer ist beileibe kein Bettler gewesen.“ Jetzt sah mich meine Frau tadelnd an.
„Das weiß ich selber auch. Aber denke nach. Was hat er getragen, wenn er in der Firma war, am Sportplatz, selbst bei Veranstaltungen?“ Es dämmerte mir. Bevor ich es aussprechen konnte, tat es Susan für mich. „Er trug stets ganz legere Kleider. Sportlich. Unauffällig. Wie der normale Typ von der Straße. Hier ist er aber rausgeputzt wie ein Pfau.“ Susan hatte recht.
„Dann hatte er einen wichtigen Termin. Nun, das wird sich klären lassen.“ Während Susan leicht verschmitzt in sich hineinlächelte, klärte Moritz mich endgültig auf.
„Oder aber ein Rendez-vous. Und bevor du dir die nächste Frage stellst. Nicht mit seiner Frau, sofern er denn verheiratet war.“ Ja, er war verheiratet und hatte einen Sohn. Stimmte, was für Susan und Moritz so offensichtlich war, würde in Maurers Terminkalender der gestrige Abend leer geblieben sein. Ich überlegte kurz, doch Moritz unterbrach dieses Sinnieren abrupt. „Wie stand es denn um Maurer und die Damen?“ Glaubte eigentlich jeder, dass der Reporter eines Regionalblattes über derlei Gepflogenheiten Bescheid wusste? Eingeschnappt tat ich das kund.
„Woher soll ich das wissen?“ Da Susan wusste, dass ich mich in meiner Berufsehre gekränkt fühlte, sprang sie mir zur Seite.
„Ach, Michi interessiert sich nicht für derlei Dinge. Da bist du bei einer Krankenschwester an der besseren Adresse. Uns wird doch tagtäglich jede Menge Klatsch zugetragen. Da blieb auch jemand wie Karl Maurer nicht außen vor. Soviel mir berichtet wurde, hatte er sich bei den Damen durchaus beliebt gemacht. In wieweit seine eigene Angetraute davon Wind bekommen hat, kann ich jedoch nicht sagen.“ Mein Schwiegervater fuhr fort.
„Als du damals bei dieser anderen Zeitung, dem ‚Wochenblatt’ angefangen hast, warst du doch auch für diesen Maurer tätig, wenn ich mich noch recht erinnere. Zumindest glaube ich, dass dies Susan ein- oder zweimal erwähnte.“ Meine beruflichen Erfolge waren damals sehr bescheiden gewesen und meine Frau zog jeden Strohhalm heraus, der mich in ein besseres Licht stellte. Sie hatte stets an mich geglaubt und mich immer verteidigt. Das war einer der Gründe für unsere unverrückbare Liebe.
„Ja, das stimmt“, antwortete ich knapp. „Hat aber nicht sehr lange gedauert.“ Moritz merkte, dass er damit an einen womöglich wunden Punkt gerührt hatte und ritt nicht weiter darauf herum. In der Zeit, in der ich freier Mitarbeiter bei den örtlichen Sozialdemokraten war und für deren Parteikäseblatt in sämtlichen Gemeinden des Bezirkes verantwortlich zeichnete, trat auch Charly Maurer an mich heran, um seine betriebsinterne Zeitung zu gestalten, beziehungsweise über diverse Veranstaltungen in seinem Hause zu berichten. Natürlich alles rein inoffiziell. Ich verdiente mir damals etwas zu meinem spärlichen Salär dazu, brach aber mit Maurer aufgrund des immer schlechter werdenden internen Betriebsklimas. Am Ende hatte man mich nur noch wie einen Laufburschen behandelt, der stets Gewehr bei Fuß zu stehen hatte. Und da ich beim „Wochenblatt“ inzwischen etabliert war, konnte ich auf Karl Maurers Brosamen gut und gerne auch verzichten. Es war eine anfangs sehr interessante Zeit gewesen, da ich viel von der IT-Branche und dem seinerzeit im öffentlichen Bewusstsein fast unbekannten Glasfasersektor als freier Mitarbeiter lernte. Zuletzt war es jedoch nur noch demütigend gewesen, da man mich mit einem Festangestelltenverhältnis hinhielt und ich sukzessive spürte, wie man hinter meinem Rücken über mich zu witzeln begann. In versöhnlichem Ton stellte Moritz die nächste Frage.
„Was kannst du mir sonst noch über ihn sagen, bevor du wieder los musst?“
„Na, zum Grillen bleibe ich noch da. Du weißt ja selbst, wie so etwas läuft. Bis zum Nachmittag wird sich kaum etwas für die Presse relevantes tun. Und einen Fotografen habe ich ohnehin bereits abgestellt, der den Leuten auf den Fersen bleibt.“ Ich hatte dazu Franz Baumeister telefonisch gebeten. Ein ruhiger, besonnener, lediger Mann, den ich von meiner alten Zeitung abgeworben hatte. Wenn sich etwas Überraschendes tat, würde er mich informieren. Ich fuhr fort. „Über Maurer können wir in den nächsten Tagen sicherlich noch tiefer ins Detail gehen. Ich werde garantiert noch einiges mehr erfahren, was ich nicht jetzt schon weiß. Er hat als einfacher Angestellter bei einer Technologiefirma in Remsch begonnen, sich viel Spezialwissen bezüglich der damals noch in den Kinderschuhen steckenden Glasfasertechnik angeeignet und schließlich den Sprung ins kalte Wasser gewagt. Er machte sich selbständig, gründete mit Partnern die Maurer IT und stieg sukzessive auf. Politisch ist er eher den Sozis zuzuordnen, was für einen Unternehmer seines Kalibers untypisch ist. Ich glaube aber, dass das nur Fassade war, um sich einen besseren äußeren Anstrich zu geben. Privat trat er lange als Musiker einer regional sehr bekannten Band auf und tat sich zuerst beim Nachwuchsfußball, später in der Kampfmannschaft des SC Mürren als Hauptsponsor und zweiter Vereinspräsident hervor.“ Ich spürte, wie das Gehirn von Moritz zu rattern begann, doch er verkniff sich jede weitere Frage. Stattdessen erhob er sich vom Tisch und machte Anstalten, die Küche zu verlassen.
„Wo steckt Julia eigentlich so lange?“ Ach ja, wir wollten ja Grillen. Nun, Julia würde sich nicht von Gerti loseisen können und ich stand in der Pflicht, Familie und Gast reichlich wohlschmeckendes Fleisch zu kredenzen. Dazu holte ich Hühnerfilets, Koteletts mit Knochen und verschiedene Würste aus dem Kühlschrank, marinierte diese mit Meersalz, Pfeffer, gehacktem Knoblauch, Paprikapulver, frisch geschnittenem Rosmarin und reichlich Olivenöl. Während das Grillgut diese Aromen aufsog, bereitete ich einen schmackhaften Salat aus dem Gartenbeet mit hausgemachten, mediterranem Dressing zu. Schnitt ein großes Ciabatta-Brot in Streifen und setzte Kartoffeln sowie Maiskolben in einem breiten Topf zum Kochen auf. Moritz zündete unterdes das Feuer an meinem selbstgemauerten Holzkohlegrill an. Julia kehrte mit der Botschaft zurück, dass Gerti Wallner die Einladung dankend annahm und so stand einem geruhsamen Mittagessen unter meinen liebsten Menschen auf der Welt nichts mehr im Wege. Karl Maurer würde nie wieder in den Genuss einer Mahlzeit im Kreise seiner Familie kommen. Ich hatte ihn nicht leiden können. Weder seine Art, noch seinen Stil oder seinen Umgang mit anderen Menschen. Aber so ein Ende hatte auch er nicht verdient. Niemand hatte das. Und doch passierte es tagtäglich tausende Male auf diesem Planeten. Mord. Noch sinnbefreiter als der Tod an und für sich war. Oder das Leben.

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