Der Konzern

LESEPROBE


Kapitel 1

DIESE WELT

Novembertage

„Vierzigste, Ecke Fünfte!“, sagte ich zum Fahrer und schlug die Tür hinter mir zu. Ich blickte mich kurz im Fahrgastraum um und entdeckte eine grüne, aus Gummi gefertigte Maske, die auf der Fußmatte nebenan lag. Ein Überbleibsel aus der vergangenen Halloweennacht. Der Lenker brummelte nur etwas Unverständliches und das Taxi fuhr ab. Ein paar Blocks schnurgerade Richtung Süden waren keine allzu einträgliche Fuhre. Alltagsgeschäft eben. Ich schloss meine Augen. Kehrte an den Ort zurück, den ich gerade verlassen hatte. Das Schwarzhaarige Mädchen von Egon Schiele tauchte wieder vor mir auf. Jenes Bild, das ich noch vor wenigen Minuten so intensiv, so inbrünstig im Museum of Modern Art studiert hatte. Es ganz und gar verschlang. Mich zerrissen fühlte, bis ich endlich verstand. Oder zumindest zu verstehen glaubte, was der an der Spanischen Grippe zugrunde gegangene Maler dem Betrachter offenbarte. Schon morgen würde ich mich erneut dieser Prüfung unterziehen. Bei einem anderen Bild, einem anderen Genie.
„Neun Dollar 50, Lady“, forderte der Chauffeur seinen Lohn. Alles war auf ein Minimum reduziert worden. Unsere Sprache, unsere Gestik, unser Menschsein. Wir trieben nur noch. Klammerten uns ans Treibholz. Ich öffnete Augen und Portemonnaie und gab ihm einen Zehner.
„Happy Halloween“, verabschiedete ich mich und trat auf den Bürgersteig. Leichter Regen setzte ein. Ich schulterte meine klobige, schwarze Handtasche und strich durch mein schulterlanges, brünettes Haar. 42 Jahre alt. Die Hälfte davon hatte ich geträumt, irgendwann einmal hier zu leben. Mitten in Manhattan. Nun war es geschehen. Doch ich verspürte nichts dabei. Außer der lähmenden Angst, die sich quer durch meinen Körper verbreitete. Ich ging in das kleine Lebensmittelgeschäft eines gebürtigen Syrers namens Ahmet und ließ mir in dünnen, weißen Plastiktüten mein Abendessen einpacken. Eine Zweiliterflasche Orangensaft, Fladenbrot, Oliven, Käse und eine süße orientalische Köstlichkeit, deren Namen ich mir nicht merken konnte. Wieder auf der Straße huschte ich durch den stärker werdenden Niederschlag und trat rasch unter das kurze Vordach des Hotels, in dem ich seit ein paar Tagen logierte. Die Zimmer im Yardiott wurden je nach Saison und Ausstattung zwischen 150 und 200 Dollar pro Nacht an Touristen oder Geschäftsreisende verhökert. Eigentlich ein stolzer Preis, nicht aber für New Yorks 5th Avenue. Ich hatte mit dem Manager gesprochen und wurde schließlich für 500 Dollar pro Woche, ein halbes Jahr im Voraus, in einem Queen-Size-Room im 26. Stock einquartiert. Cash, versteht sich. Ohne Zimmerservice. Wäschetausch alle sieben Tage. Staubsauger und Putzutensilien konnten bei den Etagenmädchen ausgeliehen werden. Ich hatte seit Kindheit an genügsam gelebt. Und würde das solange weiter tun, bis der Krebs in mir mich zerfressen hatte.

*

Nachdem ich meine Mahlzeit an dem schmalen Schreibtisch neben der Fensterfront eingenommen hatte, legte ich mich auf die Polstercouch gegenüber und machte den Fernseher an. Zappte mich durchs Programm und blieb schließlich bei einer Sendung über Astronomie hängen. Das Gesetz der Sterne hatte mich stets fasziniert, mich mitunter jedoch auch meines eigenen Lebenssinns beraubt. Im Bestreben etwas zu begreifen, was nicht zu begreifen war. Hier in diesem urbanen Moloch, diesem Meer aus Licht waren die funkelnden Punkte am nächtlichen Himmel nicht zu erkennen. Und damit verschwand für die Menschen auch der Blick nach draußen. Die Demut vor wahrer Größe und Schönheit. Wer keine Sterne sah, sah nur noch sich selbst. Und den kleinen Haufen, den er aus dem Erdboden scharrte. So hatte ich schon immer gedacht. Auch zu jenen Tagen, an denen ich noch Ideale vor mich her trug. An denen ich noch an etwas glauben wollte. Doch diese Tage waren gezählt. Noch ehe ich jenen verhängnisvollen Anruf erhalten hatte. Ich entsann mich an diesen Tag zurück, während vom Bildschirm an der Wand der mächtige Jupiter seine wütenden Kreise zog.

*

„Dr. Jones“, meldete sich die Stimme des Betriebsarztes, als ich den Hörer zu meinem Büroanschluss abgenommen hatte. „Dr. Wincastle hier. Kommen Sie doch im Laufe des Nachmittags zu mir rüber. Die Untersuchungsergebnisse sind da.“ Mitarbeiter der Forschungslabors mussten sich alle drei Monate einem gründlichen Medizincheck unterziehen. Das war Standard. Nicht Standard hingegen war, dass man nach Auswertung der Tests angerufen wurde. Irgendetwas konnte also nicht stimmen. Ich brach daher die Analyse der Versuchsreihe ab, die wir uns am Vortag vorgenommen hatten, und ging auf direktem Weg zu Wincastle’s Ordinationsraum.
„Spucken Sie es aus, Doktor“, forderte ich mein Gegenüber ohne Umschweife auf, während ich mich in den breiten Drehlederstuhl vor seinem Schreibtisch setzte. Wincastle’s Blick ging nach unten. Hin zu einem Fluchtpunkt, in den er sich zu verkriechen suchte. Das war an seiner ganzen Körperhaltung herauszulesen. Er atmete tief und schwer, ehe er sich sammelte und mir dann direkt ins Gesicht sah.
„Wie lange kennen wir uns jetzt schon, Mary?“, stellte er mir eine etwas zu durchsichtige Frage. Er wollte Zeit gewinnen. Was das in mir wachsende Unwohlsein gerade noch förderte. Nichts desto trotz spielte ich mit.
„Seit ich hier angefangen habe, Clarke. 15 Jahre ist das mittlerweile her.“ Er nickte wohl wissend. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatten wir so etwas wie Gefühle zu einander gehegt. Doch es war nie über einen heißen Flirt hinaus gegangen. Wie so oft in meinem Leben.
„Ich habe mir gemeinsam mit Professor Byton aus der Zentrale die Ergebnisse der Magnetresonanz Ihres Bauchraumes angesehen.“ Byton war der Chefarzt des Unternehmens, das in Saint Louis seinen Hauptsitz hatte. Dazu kamen Niederlassungen in 31 Bundesstaaten und viele weitere auf der ganzen Welt. Der Doktor blickte mich nun sehr ernst an, während mein Pulsschlag in den Ohren zu pochen begann. „Bauchspeicheldrüsenkrebs“, würgte er auf weitere Umschweife verzichtend hervor. Ich riss meine Augen weit auf. Saß wie vom Donner gerührt da. Ich hatte mit viel gerechnet. Doch nicht mit einem Todesurteil.

*

Ich zog den weißen Hotelduschvorhang zur Seite, stieg in die emaillierte Schale und drehte an einer klobigen Armatur. Es dauerte eine Weile, ehe sich das Wasser erwärmte und die Strahlen wohltuend mein Gesicht umspülten. Nach der Diagnose von Dr. Wincastle hatte ich alles über Bauchspeicheldrüsenkrebs in Erfahrung gebracht, was ich zuvor noch nicht wusste. Auch wenn man die Erkrankung bei mir bereits im Frühstadium erkannt hatte, stand mir nur eine dreiprozentige Überlebenschance ins Haus. Das war eindeutig zu wenig. Deshalb schlug ich es nach gründlicher Überlegung auch aus, mich operieren zu lassen oder mich langwieriger, schmerzvoller Chemotherapien zu unterziehen. All das würde nichts am Unausweichlichen ändern. Wenn ich Glück hatte, konnte ich mit hoch dosierten Schmerzmitteln noch ein Jahr leben, ehe die Verdauungssäfte alles in mir zerstörten. Sie hatten bereits damit begonnen. Fraßen sich durch Nieren, Leber, Magen und Darm. Die entarteten Zellen teilten sich. Aus einer wurden zwei. Aus zwei wurden vier. Aus vier dann acht. Bis die Metastasen ihren vernichtenden Würgegriff um alle Organe in meinem Körper gelegt hatten. Und kurze, aber schwere Pein schließlich das Ende besiegelte. Es gab keine Chance auf Heilung, wenngleich mir die Ärzte das immer wieder zu suggerieren versuchten. Wohl in der Hoffnung, mich nicht vollends in die Verzweiflung zu treiben. Doch ich war Mary Jones! Und in mir reifte Plan.

*

Da ich die mir verbleibende Zeit nicht in Krankenhäusern oder Ambulatorien verbringen mochte, dämpfte ich meine langsam an Bauch und Rücken beginnenden Schmerzen mit Medikamenten. Gegen Übelkeit und Völlegefühl ging ich gleichermaßen vor. Dr. Wincastle hatte aufgrund meiner Weigerung, mich in laufend überwachte ärztliche Behandlung zu begeben, meine Lebenserwartung um sechs Monate nach unten korrigiert. Für das, was ich vor hatte, würde die Zeit reichen. Die Alternativen waren Chemo und Bestrahlung. Doch das würde das Unvermeidliche bloß qualvoll in die Länge ziehen. Ich hing sehr an meinem Leben. Wie jeder andere Mensch auch. Aber es gab Momente, in denen man Prioritäten setzen musste. Ein halbes Jahr in Freiheit klang besser als ein Ganzes in steter Abhängigkeit. Ich zog die Vorhänge zur Seite und blickte vom 26. Stock hinab auf die 5th Avenue. Es war früh am Morgen und ich hatte etwas geschlafen. New York hatte das augenscheinlich nicht. Zumindest zogen die kleinen Ameisen da unten weiter unablässig ihre Linien über die Straßen und Bürgersteige der Stadt. Ich ging zurück zum Bett, schüttelte die Kopfpolster auf, zog das Leintuch glatt und schlug die schwere Nachtdecke auf. Dann brühte ich am Kocher etwas Wasser auf, schenkte es in eine kitschige Tasse und rührte Instantkaffee hinein. Zwei Löffel Zucker dazu und ein Donut vom Vortag. Ich brachte mein bescheidenes Frühstück an die Fensterbank und ging im Pyjama zum Nachtkästchen, woraus ich einen kleinen Schlüssel entnahm. Diesen steckte ich in den Griff eines der insgesamt drei aneinander gereihten Fenster und schloss es auf. Aus Sicherheitsgründen und um Selbstmorden vorzubeugen, hielten Hotelbetreiber stets ihre Fenster geschlossen. Doch ein paar Klicks im Internet genügten, um sich entsprechendes Gerät zu besorgen. Ich öffnete und sog ein paar intensive Atemzüge lang die kalte, durch mein Gesicht wehende Luft ein. Dann machte ich wieder zu. Ich wollte nicht unnötiges Aufsehen erregen. Nach dem Frühstück ging ich ins Bad, wusch mich, putzte die Zähne und entledigte mich schließlich meines Nachtgewandes. Anschließend öffnete ich die Tür zum schmalen Wandschrank und legte mir die Kleidung für den kommenden Tag zurecht. Ich hatte 42 Jahre lang wie ein Uhrwerk gelebt. Wieso sollte der bevorstehende Tod plötzlich etwas daran ändern? Nun, eine Neuerung war doch in mein Leben getreten. Ich kleidete mich endlich so, wie ich es immer wollte, mich aber niemals getraute. Vielleicht aus Scham, viel mehr aber aus Unsicherheit. Ich hatte meine Weiblichkeit nur sehr selten ausgelebt, da ich mich als Wissenschafterin in einer von Männern dominierten Welt behaupten musste und wollte. Das ging besser in Hosen und Turnschuhen als im Rock mit High Heels. Und da ich kein Bewusstsein für meinen Körper entwickelt hatte, verleugnete ich ihn kurzerhand. Doch seit ich vor einigen Tagen die Seile, oder besser gesagt die Fäden zu meiner Vergangenheit durchschnitten hatte, getraute ich mich Frau zu sein. Ohne Verklemmung, ohne Angst es zu zeigen. Also streifte ich Lingerie von Victoria’s Secret über, hüllte meine Beine in hauchzarte, schwarze Nylons und zog ein schickes Kostüm an, das ich mir bei Saks gekauft hatte. Anschließend schlüpfte ich in meine Pumps, nahm meine Handtasche an mich und verließ das Zimmer. Als ich unten im Foyer mit dem Lift angekommen war, spürte ich den Blick eines Mannes auf mir ruhen, der mich verstohlen von der Seite her betrachtete. Ich strahlte mit meinem roten Lippenstiftmund in seine Richtung und ging hinaus auf die Straße.

*

Ich hatte mir vielleicht mein Selbstbewusstsein, meine Identität ein Stück weit zurück erobert, meine Einsamkeit war jedoch geblieben. Und die Zeit war zu knapp, um daran noch groß etwas zu ändern. Nachdem ich Piet Mondrian’s Komposition in Braun und Grau mit meinen Augen fast zerfressen hatte, kehrte ich dem Museum den Rücken und ließ mich etwas durch die Häuserschluchten treiben. Da es am frühen Nachmittag jedoch empfindlich kalt wurde und meine hochhackigen Schuhe höllisch zu drücken begannen, setzte ich mich kurzerhand ins nächstbeste Lokal. Irgendwo in der Nähe des Times Square. Ich hatte keine Lust, mir ein Musical anzuschauen, wofür in diesem Teil Manhattans beinahe auf jedem Meter Werbung gemacht wurde, also bestellte ich entgegen aller Gewohnheiten ein Glas Chardonnay und trank es am Tresen in zwei Zügen aus. Der Barkeeper sah mich fragend an und ich nickte. Noch eins. Ich stellte meine Tasche vor mir ab, holte einen kleinen Spiegel hervor und checkte kurz mein Makeup.
„Sie sehen toll aus“, vernahm ich plötzlich eine Stimme. Ich drehte mich nach links und sah einen Mann etwa in meinem Alter, der drei Hocker weiter vor einer unordentlich gefalteten Zeitung und einem Glas Whiskey saß. Ich wusste nicht recht, was ich darauf sagen sollte. Die Männer, mit denen ich die letzten Jahre zu tun hatte, fanden mich, wenn überhaupt nett. Charmant, wenn es hoch ging und der Promillepegel nach der Arbeit stieg. Aber toll. Das hatte ich noch von keinem gehört. Doch ich hatte die letzten anderthalb Jahrzehnte auch zum Großteil in einem Nest namens Marshall, Missouri und nicht in New York City zugebracht. Da verlor man leicht den Bezug zur Welt da draußen, verklärte sich die Optik. Ich lächelte leicht, aber würdevoll und widmete mich dem vor mich hingestellten Getränk. Es war ruhig hier drinnen. Überraschend ruhig für einen Ort wie diesen. Die Musik aus dem Radio tönte nur sehr diskret durch den Raum und die obligatorischen Fernseher an den Wänden fehlten gänzlich. Ich fühlte mich hier irgendwie in meine Studienzeit zurückversetzt. Nach Clarksville, wo ich Biologie und Chemie studiert hatte. Dort hatte es auch solche Lokale gegeben. Was wohl aus ihnen geworden war? In einer der Sitznischen saß ein älteres Paar, vor einem Spielautomaten stand ein junger Kerl in Arbeitskleidung. Vermutlich ein Paketdienstfahrer beim verfrühten Feierabend. Ehe ich mein Glas leer hatte, kam der Barmann auf mich zu. Hinter ihm funkelten die Flaschen im schalen Licht der hoch an der Decke hängenden Lampen.
„Dieser Gentleman möchte Sie noch auf ein Getränk einladen. Akzeptieren Sie?“ Er deutete dabei auf den Herrn, der mich zuvor schon angesprochen hatte. Ich betrachtete ihn nun näher. Er trug einen schwarzen Anzug, der nach Wall Street aussehen sollte, aber nicht von der Wall Street war. Man konnte mich ohne weiteres als Landei bezeichnen. War ich doch am Lande aufgewachsen, hatte am Lande studiert und auch am Lande, in der Provinz ein Gutteil meines Lebens gearbeitet. Dennoch war auch an mir die Zeit nicht achtlos vorüber gerauscht. Trotz dieser offensichtlich falschen Fassade, sah ich etwas an diesem Menschen, was mich interessierte. Es war sein Blick, der mich für ihn einnehmend traf. Sein Gesicht war nicht schön, aber es hatte Charakter. Ich spürte das in jeder kleinen Furche, die es überzog. Also nickte ich kurz. Der Mann stand auf und setzte sich neben mir hin.
„Sie haben Zweifel, meine Dame“, eröffnete er die Unterhaltung. Ich wollte darauf etwas erwidern, doch er ließ mich nicht. „Nein, nicht was mich betrifft. Nein, Sie haben an sich selbst Zweifel.“ Wie recht er damit hatte. Er las etwas an mir, was wie in großen Lettern gemeißelt in meinem Gesicht stand.
„Was bringt Sie zu dieser Annahme, mein Herr?“, fragte ich vielleicht etwas zu zickig. Doch er überhörte es.
„Sie fühlen sich mit Makeln behaftet. Vor allem, was Ihr Äußeres betrifft. Was Ihre Seele betrifft, so brauche ich dafür noch etwas mehr Zeit, um sie zu ergründen. Doch seien Sie gewiss. Sie irren. Sie sind schön. Wunderschön. Und es hätte nicht dieser Aufmachung bedurft, Ihnen das zu sagen.“ Dabei besah er meinen ganzen Körper. Ich spürte, dass ich zu erröten begann.

*

Seine Stöße drangen bis ins tiefste Innere von mir vor. In beiderlei Hinsicht. Ich schrie vor Lust ebenso wie vor Schmerz. Doch genau diese Urgewalt war es, die ich in diesem Augenblick brauchte. Mein Körper, in denen die Zangen des Krebses unbarmherzig scharrten, wurde von einer Welle der Ekstase durchgebeutelt. Immer und immer wieder. Je wilder sein Glied in meine Scham drang, desto befreiter fühlte ich mich. Ich spürte es ein Mensch zu sein. Mit allen meinen Sinnen. Mit all den unendlichen Gefühlen, die damit einhergingen. Erst als seine Kräfte schwanden, animalischer Schweißgeruch durch meine Nase drang und der Akt endete, indem er sich in einem Kondom entleerte, kam ich wieder zur Besinnung. Stand auf, gab ihm einen Kuss auf die Stirn und verschwand aus dieser Absteige, die irgendwo in der 42. Straße lag. Irgendwo in einer Welt, die bald nicht mehr die meine sein würde. Es sei denn, ich konnte mich selbst überwinden.

*

Nachdem ich erfahren musste, Bauchspeicheldrüsenkrebs zu haben, war ich in ein tiefes Loch gefallen. Ich war direkt beim Gang zurück in mein Büro zusammen gebrochen und musste von einer Kollegin, die mir eigentlich nicht sehr nahe stand, nach Hause gebracht werden. Der Chef der Forschungsabteilung war in Kenntnis gesetzt worden und hatte mir bis auf Weiteres frei gegeben. Es war für alle klar, dass ich in Anbetracht der Umstände nicht wieder zur Arbeit kommen würde. Und da die Firma Santomon für derartige Ereignisse gewappnet und versichert war, wurde mir bereits wenige Tage nach Bekanntgabe der Diagnose der Vorruhestand inklusive einer Abfertigungssumme angeboten. Mir blieb nichts mehr, als darin einzuwilligen, räumte mein Büro und ging ohne Abschiedsparty, ohne Torte, Konfetti und Punsch weg. Auch meinen Bungalow, mein kleines Häuschen am Betriebsgelände gab ich auf und verstaute einen Großteil meines Hab und Guts in einem sehr langfristig anmietbaren Abteil bei einer Möbeleinlagerung. Nachdem ich mich wieder etwas erholt und die auf mich zukommenden Realitäten begriffen hatte, war ich nach New York gegangen und hatte mich in dieses Hotel eingemietet. Die wenigen Freunde, die ich in all den Jahren behalten hatte, rieten mir gegen das Unternehmen gerichtlich vorzugehen, doch ich winkte ab. Ein Prozess gegen Santomon würde Jahre dauern. Jahre, die ich nicht hatte. Zudem hatte ich ganz genau gewusst, worauf ich mich mit dieser Firma eingelassen hatte. War zu einem Zeitpunkt dahinter gekommen, an dem es für mich als integre Wissenschafterin bereits zu spät war. Aber womöglich noch nicht als Mensch, der einen guten Teil seines Lebens noch vor sich hatte.

*

Ich saß vor meinem Laptop im Hotelzimmer und stellte mir auf den Bildschirm starrend, während Fotos aus meiner Vergangenheit nach und nach eingeblendet wurden, immer wieder die gleiche Frage. Was machte ein Mensch, der den Tod vor Augen hatte? Ich wusste darauf keine Antwort. Meine Eltern waren tot. Meine Geschwister hatten Familien gegründet. Wieso ihnen zur Last fallen? Wer wollte schon seinen Kindern zumuten, eine sterbende Frau ins Haus zu holen? Sich von Freunden verabschieden? Auch dazu fehlte mir der Mut, die Kraft, die Intention. Ich würde einsam sterben. Das machte mir am meisten zu schaffen. Ohne jemals wirkliches Glück verspürt zu haben. Ohne die Geburt eines Kindes durchgestanden, ohne jegliche Spur in den Sand der Erinnerung gesetzt zu haben. War das mein Vermächtnis? Kein Vermächtnis zu haben? Auf ewig vergessen im Kosmos umher zu schwirren. Im Staub der Geschichte auf immer versunken. Ohne Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. Einfach nur ausradiert. Wie eine Fliege am Fensterglas. Ich war eine Frau des Verstandes. Doch hier setzte er aus. Es gab Dinge, die nicht zu begreifen waren. Die das eigene Ich zum Nichts zerdrückten. Vielleicht nahm ich mich aber auch nur zu wichtig. Zu einzigartig in einer Welt, in der jeder einzigartig sein wollte. Ich stellte den Laptop beiseite und legte mich ins Bett. Strich sanft über meine Nylonstrümpfe. Hätte ich eine Empfindung ins Jenseits oder wo auch immer mitnehmen können, dann diese. Diesen zarten Touch von Chemie auf meiner Haut.

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Ich hatte mir in Tribeca die verrückte Lesung eines verrückten Poeten angehört und war danach durch Chinatown geschlendert. Die Wetterfrösche hatten Schneefall vorher gesagt und so erwarb ich an einem Stand mit taiwanesischer Ware ein billiges Paar Stiefel und zwei Häuser weiter einen Wintermantel aus Pelzimitat. Es würden die letzten Ausgaben für meine Garderobe sein. Daran gab es nichts mehr zu rütteln. In einer Garküche bestellte ich einen großen Topf Hühnersuppe mit langen, hauchdünnen Nudeln darin und trank dazu eine Tasse Grünen Tee. Ich hatte beschlossen, am kommenden Tag mit dem Schreiben meiner Memoiren zu beginnen. Vielleicht würde mir das jene Erinnerung verschaffen, wonach ich mich so sehnte. Da die Zeit zur Vollendung dieses Vorhabens drängte, würde ich künftig nur noch selten mein Hotelzimmer verlassen. Bloß, um irgendetwas zu Essen einzukaufen. Solange mein langsam sterbender Körper nach Nahrung verlangte, musste ich sie ihm auch zuführen. Auf dem Weg zur Untergrundbahn spürte ich, wie sich alles in mir zusammen zog. Ich öffnete meine Handtasche und schluckte einige Pillen runter. Mittlerweile hatte ich gelernt, das auch ohne Wasser zu bewerkstelligen. Die Messer stießen wieder einige Millimeter tiefer in meinen Leib. Der Schmerz war nun mein treuester Begleiter. Sechs Monate hatte Wincastle gesagt. Davon war eines fast schon durch. Beim Abgang in die Metro stand ein alter Mann, der rauchend Zeitungen verkaufte. Ich nahm eine, gab ihm ausreichend Trinkgeld und bat ihn um eine Zigarette.
„Gerne, Lady“, lächelte er mich an, blickte kurz meine Beine hinab und gab mir schließlich Feuer. Ich hatte seit meiner Zeit am College nicht mehr geraucht. Und es danach niemals mehr vermisst. Dennoch sog ich nun gierig das Nikotin in mich ein. Ehe es vorüber war, wollte ich all die Sinne, all die Gefühle dieses Lebens noch einmal in mir, an mir und um mir verspüren.



Lebenslinien

Ich wurde am 14. März 1972 in Pulaski, Tennessee geboren. Von unserer Baumwollfarm in Nutbush aus wären es nur etwa 50 Meilen bis ins nächste Spital mit Endbindungsstation gewesen, doch mein Vater fuhr die ganzen 170 Meilen Richtung Osten, da in Pulaski der Ku Klux Klan gegründet wurde und Frank Jones es als heilige Pflicht ansah, seine Tochter, oder wie er insgeheim gehofft hatte, seinen Sohn auf diesem historischen Flecken Erde das Licht der Welt erblicken zu lassen.

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Ich hatte drei Geschwister. Meine beiden Brüder Frank jun., der der Einfachheit halber Junior gerufen wurde und Peter, sowie meine Schwester Sally. Als erstes in meinem noch so jungen Leben erinnerte ich mich an die weißen Baumwollfelder, die unsere Familie bewirtschaftete. Die reifen, geöffneten Kapseln sahen aus wie kleine Wattebäusche, die am Ende von dünnen, braunen, nach oben ragenden Ruten hingen. Doch dieser Schein trog. Wie so vieles im Leben. Denn griff man unachtsam nach diesen Tupfern, schnitt man sich an den scharfkantigen Hülsen, die die Baumwolle ummantelten. Wir lebten in einem typischen Haus im Stil der ersten Siedler. Weiß getünchte Bretter an der Fassade, eine ausladende Veranda vor der Eingangstür. Im Inneren des Gebäudes hatte freilich längst die Moderne Einzug gehalten. Fließend Wasser, Strom, Kühlschrank, Fernseher, Waschmaschine. Eine Farmerfamilie, die es durch harte Arbeit zu bescheidenen Wohlstand gebracht hatte. Neben meinen Eltern und meinen Geschwistern lebte auch mein Großvater mit im Haus. Als die Jüngste von allen war es mir zugedacht, seinen Erzählungen zu lauschen. Vom zweiten Weltkrieg. Von seinem Vater, der im ersten Weltkrieg ausgeblieben war. Von der liebevollen Strenge, die ihm seine Mutter angedeihen hatte lassen. Von seinen Brüdern und Schwestern. Vom Überlebenskampf in Zeiten der Weltwirtschaftskrise. Von seiner Frau, meiner Großmutter, die viel zu früh gestorben war. Ich verstand das damals alles nicht, begriff es nicht und hatte es dennoch verinnerlicht. Weil es mir wert erschien, die Erinnerungen eines anderen Menschen zu behalten.

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Baumwolle anzubauen, nahm mehr oder weniger das ganze Jahr in Anspruch. Die Aussaat erfolgte im Frühling, die Ernte im Herbst. Aufgrund der langen Wachstumszeit und der unterschiedlichen Reifung war nach der Ernte eine schnelle Feldbestellung und Neuaussaat notwendig, um mit dem Zyklus der Natur schritt halten zu können. Zudem erforderte der Baumwollanbau einen hohen Einsatz von Wasser und Chemikalien. Ich erinnerte mich daran, was mein Vater zu Junior sagte: „Ich bin in der falschen Branche, mein Sohn. So, wie es meine Vorväter auch schon waren. Diese Gauner von Santomon kassieren jedes Jahr Unsummen für Saatgut und Pflanzenschutzmittel von mir. Rühren dabei aber keinen Finger, während uns die ganze Plackerei bleibt. Nein. Du wirst zur Universität gehen und dann dort bei denen einsteigen. Ich werde der letzte Jones sein, der sich für andere die Finger krumm und wund arbeitet.“ Er wiederholte das in regelmäßigen Abständen. Meistens, nachdem er eine halbe Flasche Whiskey getrunken hatte.

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Zu Beginn der Erntezeit war immer sehr viel Betrieb im Haus, denn unsere Verwandten kamen aus dem ganzen Bundesstaat angereist, um eine Woche auf den Feldern mitzuarbeiten. Das geschah eher aus alter Gewohnheit, denn aus Notwendigkeit, weil wir längstens eine selbst fahrende Baumwollerntemaschine einsetzten und nicht mehr per Hand pflückten. Diese sieben Tage sollte alle eher daran erinnern, mit wie viel Mühsal frühere Generationen ihren Lebensunterhalt verdienen mussten. Papa war kein großer Freund dieser Familientreffen, weil er für alle Gäste aufkommen musste und die Ernte in dieser Zeit unrentabel war, aber Großvater bestand darauf und damit war der Fall erledigt. „Die Qualität handgepflückter Baumwolle ist um ein Vielfaches höher als jene, die maschinell geerntet wird.“ Womit der natürlich nicht unrecht hatte. Denn die Erntemaschine pflückte alle Kapseln ab. Egal ob unreif, reif oder überreif, während die menschliche Hand nur zu den Reifen griff. Selbst Opa war klar, dass seine Argumentation aus wirtschaftlichem Gesichtspunkt hinkte und er in Wahrheit bloß an einem Anachronismus festhielt. Es bereitete ihm aber schlichtweg Freude, alle, oder zumindest viele Mitglieder der Familie einmal im Jahr beisammen zu haben. Und nicht weniger Spaß hatte er daran, meinem Vater vor Augen zu führen, dass er zwar im Ruhestand war, aber weiterhin die Zügel straffen konnte, wenn ihm danach beliebte.

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In der letzten Woche, ehe ich eingeschult wurde, waren die Jones’ wieder unter unserem Dach zusammen gekommen. Onkel und Tanten, Vettern und Cousinen. Wir Kinder wurden in die Scheune ausquartiert, während die Erwachsenen im Haus eng aneinander rückten. Die Mahlzeiten wurden an einem langen, provisorisch zusammen gezimmerten Tisch eingenommen, der zwischen der Rückseite meines Elternhauses und dem Fuhrpark stand. Dicht neben dem großen Gemüsegarten, der inklusive der Küche zum uneingeschränkten Reich meiner Mutter zählte.
„Schätzchen“, hatte sie mich zu sich gerufen, als ich am großen Zuber vor der Veranda meiner Morgentoilette nachging. „Nimm deinen Cousin Harry hier mit und hol mir fürs Frühstück einen kleinen Korb voll Eier aus dem Hühnerstall.“ Harry hielt das dafür auserkorene Behältnis bereits in Händen und so gingen wir gemeinsam zum etwas abseits gelegenen Verschlag für die Hühner. Dort sammelten wir die über Nacht gelegten Eier ein. Harry kicherte dabei immerzu. Er lebte mit seinen Eltern und seinem Bruder in Memphis und hatte keinerlei Kenntnis im Umgang mit Tieren. Die meisten unserer Verwandten waren in die Städte gegangen und hatten dem harten Farmersleben den Rücken gekehrt. Sie waren nun Buchhalter, Kaufleute oder Handelsreisende. Ich kannte Memphis nur vom Hörensagen und als Harry ein Ei entglitt und es zu Boden fiel, schreckte er zurück, als hätte er das Unglück dieser Welt freigesetzt.
„Sind alle so ungeschickt wie du in Memphis?“ Er begann wieder zu kichern und sah mich  plötzlich ganz komisch an. Dann gab er mir einen Kuss. Ganz feucht. Genau auf die Lippen. Ich wich vor Schreck zurück. Was sollte das denn? Ehe ich mich wieder sammelte, rannte er weg. Ich dachte während des ganzen Frühstücks darüber nach, warum er das getan hatte und als wir die schmutzigen Teller zum Abwaschen in die Küche trugen, wurde es mir klar. Er wollte nicht, dass ich ihn wegen des Eis verpetzte. Was ihm auch gelungen war. Hier widerfuhr mir zum ersten Mal in meinem Leben, wie berechnend Männer sein konnten.

*

Trotz aller Vorsicht waren meine Fingerkuppen schon nach kurzer Zeit völlig zerschnitten und brennender Schmerz durchfuhr meine Hände. Mein Vater kam zu mir her und unterwies mich.
„Pass bloß auf, dass du nicht zu bluten beginnst, ansonsten ist die Baumwolle unbrauchbar.“ Ich zog den Leinensack, der sich nur sehr langsam füllte, hinter mir her und konzentrierte mich auf die von mir verlangte Arbeit. Pflückte monoton die reife Baumwolle ab und versuchte mich an den Samenkapseln nicht zu verletzen. Ich hatte einen freudvollen Bezug zur Natur und meiner Umwelt entwickelt, inmitten dieses Feldes sah ich aber nichts anderes als Millionen von Baumwollpflanzen. Kein Unkraut, keine Insekten, nicht einmal Vögel. Man konnte meinen, alles um mich herum wäre tot. Steril, einem einzigen Zweck untergeordnet. Die Natur war hier gezähmt. Auf ein Minimum reduziert. Auf jenes Gewächs, dass Profit brachte. Mir war nur nicht klar, wie so etwas funktionieren konnte. Wo doch auf den angrenzenden Wiesen Blumen blühten und Bienen summten.

*

Ob meine Eltern sich wirklich liebten, blieb für mich ein niemals gelüftetes Geheimnis. Zumindest hielten sie aber zusammen, wenn es hart auf hart kam. Und in einer Branche, in der man laufend den an Warenbörsen notierten Preisen unterlag, die gesichtslose Männer in schwarzen Anzügen festlegten, konnte es mitunter auch hart auf hart kommen. Rechnungen waren zu begleichen, Hypotheken zu bedienen. Das ewige Schicksal des zwischen Mühlsteinen aufgeriebenen Mittelstandes. Mitunter konnte es schon einmal laut im Hause Jones werden, zu Gewalt kam es aber nur sehr selten. Und wenn, dann traf es Junior, der für seine Unbedarftheiten ein paar Ohrfeigen von Vater kassierte. Dabei schien ihm gewahr zu werden, dass sein ältester Sohn für eine von ihm angestrebte Hochschullaufbahn wohl eher nicht in Frage kam.

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Nutbush, der Geburtsort von Tina Turner, war geprägt von der im Umkreis betriebenen Landwirtschaft. Eigentlich drehte sich in dem verschlafenen, vielleicht 300 Einwohner zählenden Nest alles um die Baumwolle. Es gab zwei Kirchen, eine für Baptisten, die wir besuchten und eine für Methodisten, eine Schule, eine Kneipe und einen Gemischtwarenladen. Fertig. Ja, und die Entkörnungsanlage, zu der wir die maschinell geernteten Ballen brachten, um die Baumwollfasern von den Kapseln und Samen zu trennen. Unsere Farm befand sich südlich des Ortes am Highway 19 zwischen Ripley und Brownsville. Wir waren also irgendwo im Nirgendwo. Ein perfekter Ort für Treffen von Mitgliedern einer Organisation, die zu dieser Zeit vorzugsweise im Dunklen agierte.

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Es war in meinem ersten Schuljahr, als ich dahinter kam, dass sich Vater einmal im Monat, jeweils an einem Samstag, mit einer kleinen Ledertasche in der Hand aus dem Haus begab, den nahen Highway überquerte und im Wald dahinter verschwand. Meine Geschwister schliefen um diese Zeit bereits, doch ich las zumeist noch heimlich in einem Buch unter der Bettdecke mit eingeschalteter Taschenlampe. Sally’s und mein Bett standen neben dem Fenster, während Peter und Junior gegenüber, im Bereich der Zimmertür ihre Schlafstatt hatten. Eines Abends hörte ich ihn wieder weggehen und kletterte kurzerhand aus dem Fenster im Obergeschoß aufs Terrassendach und sprang von dort hinunter auf den Boden. Ich hatte eine Heidenangst, doch wissbegierig wie ich war, wollte ich dieses Geheimnis lüften. Also folgte ich dem, die Dunkelheit durchschneidenden Licht, huschte über die zu dieser Nachtzeit nur selten befahrene Straße und drang im gebührlichen Abstand zu meinem Vater in die dichte Vegetation jenseits ein. Es dauerte etwa fünf Minuten, ehe ich an eine Lichtung kam, an der ein kleines Lagerfeuer loderte. Mein Vater begab sich zu einer Gruppe Männer, die dort flüsternd beisammen standen, gab jeden die Hand und öffnete schließlich nach kurzer Zeit, so wie die anderen auch, seine Tasche und holte ein weißes Gewand hervor, dass er über seine Straßenkleidung zog. Als das geschehen war, stülpte er eine nach oben spitz zusammen laufende Kapuze über. Ich kauerte mich dicht an den Stamm eines Baumes und besah mir mit klappernden Zähnen das Schauspiel, das sich daraufhin offenbarte. Die Männer, die sich zu Gespenstern verwandelt hatten, bildeten einen Kreis um ein aus Birkenholz gefertigtes Kreuz, das stellenweise mit Stoffresten umwickelt war. Dann erhob einer von ihnen, es war nicht zu erkennen welcher, seine Stimme und trug einen Monolog vor, der mich an ein Gebet in der Kirche erinnerte. Nur dass die Aussage mit Sicherheit keine religiöse war. Ich verstand nicht, was dort genau gesagt wurde, aber es befremdete mich noch mehr wie das ganze Szenario an und für sich. An der Tonlage waren Wut, Zorn und Bitterkeit deutlich herauszuhören. Dieser Eindruck verstärkte sich, als jemand aus dem Feuer eine Fackel zog und das provisorische Kreuz entzündete, das augenblicklich in lodernden Flammen aufging. Ich erschrak dermaßen, dass ich kurz davor war die Fassung zu verlieren und laut aufzuschreien. Doch im letzten Moment brachte ich noch meine Hände vor dem Mund und konnte so die von mir ausgehenden Laute weitgehend unterdrücken. Mit aufgerissenen Augen und blankem Entsetzen im Gesicht floh ich von diesem Ort. Was hatte mein Vater bloß hier zu suchen? Warum beteiligte er sich an einem derart gruseligen Ritual? Darauf fand ich keine Antwort. Auch nicht, als ich zitternd wie Espenlaub, in meine Bettdecke gewickelt, in die Finsternis des Zimmers starrte.

*

Miss Gatsby hieß meine Lehrerin an der Grundschule. Sie stammte aus Louisville in Kentucky, hatte dort jedoch keine Arbeit gefunden und wurde kurzerhand in unser verschlafenes Nest geschickt. Es war ihre erste Stelle als Lehrerin und sie hatte Schwierigkeiten, sich an die schlichten Verhältnisse in Nutbush zu gewöhnen, doch sie gestaltete ihren Unterricht sehr anschaulich und mit großer Liebenswürdigkeit. Miss O’Gready, die die Klasse mit den etwas älteren Schülern wie Junior und Peter unterwies, beäugte ihre neue Kollegin mit sichtlichem Unbehagen. Sie war eine glühende Anhängerin der Rohrstock-Pädagogik und praktizierte diese auch mit außerordentlichem Fleiß. Nicht Wissensdurst und Individualität, sondern Angst und Unterordnung waren die Lehrmeister, denen sie den Vorzug gab. Das erfuhr ich jedoch nur selten, wenn Miss Gatsby verhindert war und die alte Jungfer die ABC-Schützen mit unterrichtete. Meine Lehrerin, die ich die ganze Grundschule lang behielt, förderte meine Stärken und bereitete mich auf das vor, was im Leben noch auf mich zukommen sollte. „Merke dir, kleine Mary“, hatte sie mir offenbart, als ich ihr nach dem Unterricht ein ausgeliehenes Buch über die Grundlagen der Botanik zurückgab, „nicht dein Körper ist entscheidend. Nein, einzig und alleine dein Geist.“ Für die 70er Jahre war sie eine bemerkenswert moderne Frau. Doch irgendwie spürte ich, dass ihr äußerlich zur Schau gestelltes Selbstbewusstsein bloß Fassade war. Auch an ihr waren die Spuren des Kampfes gegen die Widrigkeiten des Lebens nicht verwischt worden.

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Meine Schwester Sally, mit der ich gemeinsam die Schulbank drückte, war ein Jahr älter als ich. Wir mochten uns sehr und verbrachten viel Zeit miteinander. Es war nicht so wie bei Peter und Junior, die ihrer eigenen Wege gingen. Nein, mit Sally auf der Farm herumzutollen machte wirklich Spaß. Zu anderen Kindern hatten wir abseits der Schule, dem Kirchgang und den gelegentlichen Gemeindefesten nur sehr wenig Kontakt. Farmersfamilien im Westen Tennessees blieben in der Regel unter sich. So wurde meine Schwester bald auch zu meiner besten Freundin. Wir pflückten Blumen, versuchten kleine Fische mit bloßen Händen am nahen Bach zu fangen oder spielten am Betriebsareal verstecken. Sally hatte eine künstlerische Ader. „Du kannst das ausdrücken, was ich nur zu beobachten imstande bin“, hatte ich einmal zu ihr gesagt. Sie war eine hervorragende Zeichnerin. Schon im Kindesalter fertigte sie Skizzen an, die von Schönheit, Phantasie und Präzision nur so strotzten. Sally steckte ihre Nase direkt in die Welt hinein, während ich meine in Büchern vergrub. Das unterschied uns. Brachte uns aber auch zusammen.

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1964 wurde mit dem Civil Rights Act die Rassentrennung juristisch aufgehoben, 15 Jahre danach spukte sie aber nach wie vor in den Köpfen der Menschen. Wenngleich auf subtilere Art als zuvor. Die schwarzen Kinder, die mit mir zur Schule gingen, saßen in den hintersten Reihen. Ihre Eltern hielten sich vom öffentlichen Leben weitgehend fern. Nur beim sonntäglichen Kirchgang waren sie wirklich unter uns. Wenngleich sie auch dort auf ihren angestammten Bänken Platz nahmen. Die Schwarzen in Nutbush waren Tagelöhner, die auf den Farmen die schwere körperliche Arbeit übernahmen und mit ihren Familien in schäbigen Häusern am Ortsrand wohnten. Sie entluden die schweren Baumwollballen bei der Entkörnungsanlage, hoben Be- und Entwässerungsgräben aus oder wuchteten Saatgutsäcke auf Traktoranhänger. Und nicht einmal hatte ich gehört, dass sie dabei Lieder anstimmten. Klischees verdeckten schon immer die Sicht auf die Wahrheit.

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Eines Abends wurden wir Kinder direkt nach dem Essen zu Bett geschickt. Bei Vater, und noch mehr bei Großvater, war bereits den ganzen Tag über eine gewisse Spannung bemerkbar gewesen, während Mutter ungerührt den Abwasch machte, von dem wir ausnahmsweise befreit worden waren, nach getaner Arbeit ihre Schürze abnahm, eine Karaffe mit drei Gläsern auf den Wohnzimmertisch stellte und anschließend das Haus in Richtung Garten verließ. All das hatten wir vier am Boden vor unserer Zimmertür liegend beobachtet. In der Hoffnung, von unten nicht erkannt zu werden. Die beiden Männer saßen wortlos am Sofa neben dem Kamin und starrten zur Eingangstür. Wie Patienten in einem Warteraum, die darauf hofften, dass sie endlich aufgerufen wurden. Es dauerte vielleicht fünf Minuten, ehe es an der Tür klopfte. Die alte Standuhr, ein Familienerbstück unbekannten Ursprungs, schlug gerade sieben. Mein Vater stand wie in Trance auf und öffnete.
„Guten Abend, Hexenmeister“, begrüßte er den Gast unterwürfig und bat ihn einzutreten. Ein ungestüm wirkender Kerl mit einem langen Bart erschien in meinem Blickfeld. Er trug einen grauen Anzug und behielt seinen Hut am Kopf. Wie unhöflich, dachte ich bei mir. So wie ich, starrten auch meine Geschwister gebannt auf das sich uns eröffnende Szenario. Nachdem sich auch mein Großvater erhoben und umständlich Höflichkeiten ausgesprochen wurden, auf die der Hexenmeister jedoch kaum reflektierte, wurden die Gläser vollgeschenkt und Platz genommen. Wir mussten unsere Köpfe nun stark zur Seite recken, um noch etwas erkennen zu können.
„Du beschäftigst schwarze Landarbeiter, wie mir zu Ohren gekommen ist, Jones.“ Der grobschlächtige Mann blickte dabei direkt in Vaters Gesicht. Dieser kam nicht herum, darauf zu antworten.
„Ja, so wie die meisten hier auch.“
„Die meisten. So, so“, kam es von seinem Gegenüber. „Die meisten sind aber auch nicht Mitglied beim Klan. Haben keinen Eid auf unsere Rasse geschworen. Du aber schon, Frank Jones!“ Großvater schaltete sich nun ins Gespräch ein.
„Die Schwarzen arbeiten eben billiger als die Hillbillies. Wir müssen auf unsere Kosten achten. Außerdem haben Schwarze immer auf den Baumwollfarmen hier gearbeitet. Im ganzen Süden. Vor und nach dem Ende der Sklaverei.“ Der Hexenmeister stand auf und leerte sein Glas.
„Zu Zeiten der Naturalpacht war das auch kein Problem für uns, weil die Sklaverei weitgehend fortgesetzt wurde. Bloß unter einem Deckmantel. Aber die Zeiten haben sich geändert. Wir stehen heute mit dem Rücken zur Wand. Und David Duke hat es auch vermasselt. Dazu kommt diese Sache in Greensboro.“ Er holte tief Luft. „Ezechiel Jones!“, sprach er meinen Großvater mit drohender Stimme an. „Eure Sippe ist seit der Gründung des Klans dabei. Treu, wie kaum eine andere Familie. Sicher, ihr wart immer unauffällig und zurückhaltend. Hättet durchaus mehr für unsere Sache tun können. Aber immerhin. Ihr seid bei der Stange geblieben. Von anderen darf man das leider nicht behaupten. Jetzt aber beschäftigt ihr Nigger und schämt euch nicht einmal dafür. Soll ich das dem Großen Drachen berichten?“ Beide zuckten bei der Erwähnung dieses Namens augenblicklich zusammen. Wenige Augenblicke später fiel Junior eine seiner Murmeln aus der Hand und landete am gefliesten Küchenboden. Wir drängten daraufhin gleichzeitig zur Tür und verschwanden polternd in unserem Zimmer. Nachdem wir eine Weile ängstlich unter unseren Bettdecken verharrt hatten, hörte ich, wie eine Autotür ins Schloss fiel und sich das darauf folgende Motorengeräusch langsam entfernte.

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Großvater starb kurz nach dem Fest, welches zu Ehren seines 70. Geburtstages für ihn ausgerichtet wurde. „Gott sei Dank hat er noch einmal mit der ganzen Familie beisammen sein können“, spendete meine Mutter ihrem Ehemann Trost. Die beiden hatten ihre Differenzen gehabt, im Grunde waren sie sich jedoch ziemlich gleich gewesen. Vater saß nach dem Begräbnis auf der Veranda und rauchte eine Virginia. Ich wollte ins Haus gehen, doch er rief mich zu sich.
„Du hast deinen Großvater gemocht“, stellte er für sich selbst fest. „Und doch warst du die einzige, die heute nicht geweint hat. Auch nicht die Tage zuvor. Warum, Mary?“ Ich setzte mich auf seinen Schoß. So, wie ich es immer tat, wenn wir die Nähe zueinander fanden.
„Ich weine nicht um ihn, weil ich seine Erinnerung in meinem Herzen trage.“ Ich wusste es nicht mit Sicherheit, aber in diesem Moment wurde meinem Vater endgültig klar, was die Zukunft für uns bringen würde. Und für einen kurzen Moment behandelte er mich erstmals in meinem Leben so, als wäre ich eine Erwachsene. Was mich ebenso stolz, wie auch nachdenklich stimmte.
„Du bist klug, Kleines. Die Klügste von allen. Ich habe das sehr früh an dir erkannt. Und gegen den Rat deines Großvaters dir all die Dinge gekauft, die du dort oben in deinem Zimmer stehen hast. Die Bücher, den Taschenrechner, das kleine Mikroskop. Selbst ich weiß nicht, was du damit treibst, aber ich erkenne den Fleiß, der dich antreibt.“ Er strich dabei sanft durch mein schulterlanges Haar. „Und Fleiß ist die Triebfeder für Erfolg. Junior wird einmal diese Farm hier übernehmen. Er ist geschickt mit den Händen, aber nicht mit dem Kopf. Peter geht nach Memphis zu Onkel Matthew. Er kann rechnen und Matt wird ihn zu einem Kaufmann machen. Und Sally“, seufzte er in kurze Gedanken versinkend. „Ja, Sally wird wohl heiraten. Sie hat alles, was eine gute Frau braucht.“ Ich war im Begriff zu widersprechen, weil ich in Sally eine begnadete Künstlerin sah, doch mein Vater, dem bei dieser ganzen Unterhaltung die Tränen ob des Tods seines eigenen Vaters in den Augen standen, kam mir zuvor. „Ja, sie ist ein Schöngeist. Eine Blume. Doch all das vergeht. Ich bin nur ein einfacher Bauer. Aber ich habe gelernt zu beobachten. Die Natur, die Tiere, die Menschen. Ich kenne ihre Reaktionen. Und ich erkenne, was geschehen wird. Sally ist zu zart, zu sanft für diese Welt. Sie wird jemanden brauchen, der ihr im Sturm beisteht.“ Ich hatte ihn niemals so sprechen hören. So klar. So weise, wie er mir in diesem Moment vorkam.
„Und ich?“, fragte ich ihn hoffnungsvoll.
„Du, mein Schatz“, gab er daraufhin von sich. „Du wirst das tun, wofür es Junior am nötigen Grips fehlt. Du wirst zur Universität gehen.“ Ich lächelte ihn schüchtern an. „Aber sei vorsichtig“, entgegnete er auf diese Mimik. „Als Mädchen wird dir nichts geschenkt werden. Du wirst härter arbeiten müssen als alle anderen. Doppelt so hart. Und doch werden dir manche Türen verschlossen bleiben.“ Ich verstand das nicht. Warum sollte ich weniger Wert sein als ein Junge? Denn darauf lief seine Aussage letztlich ja hinaus. Doch ehe ich imstande war zu ergründen was er meinte, stand er auf und verschwand hinter der Fliegengittertür im Haus. Ich sah, dass er leicht hinkte. Der Schrapnellsplitter aus Vietnam forderte einmal mehr seinen Tribut.

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Ich war elf, als ich zur Highschool in Ripley kam. Das brachte sehr viele Veränderungen für mich mit. Ich musste mich von meiner Mentorin Miss Gatsby ebenso verabschieden wie von meinem kleinen Klassenzimmer in Nutbush. Von nun an war ich auf mich gestellt. Spätestens dann, wenn ich mich nach zehn Meilen Fahrt mit dem Schulbus von Sally, Junior und Peter verabschiedete, um meine Kurse zu besuchen. Ich hatte mich neben den Pflichtfächern in sämtliche aufbauende Lehrgänge eingetragen, die irgendetwas mit Wissenschaft zu tun hatten. Für ein Sportteam hatte ich mich ebenso wenig interessiert wie für das Erlernen eines Musikinstruments. Also meldete ich mich in Ermangelung an Alternativen für den Literaturkurs an, um der Norm genüge zu tun. Was mich jedoch wirklich erpichte, war die Erweiterung und Ordnung meiner mittlerweise teils chaotisch zusammengetragenen Kenntnisse über die Schöpfung. Ich wollte endlich wissen, wie aus einer Hypothese ein Gesetz werden konnte. Wie man anhand eines Laborexperiments Rückschlüsse auf reale Ereignisse ziehen konnte. Schlichtweg, ich wollte wissen, wie diese Welt funktionierte. Es hatte mir noch niemals genügt, die Dinge gegeben hinzunehmen. Das begann bei meiner Hinterfragung Gottes, als mir unser Baptistenpastor die Taufe schmackhaft machen wollte. Was zu einer Verstimmung zwischen mir und meinen Eltern führte, da ich mit der Begründung ablehnte, mich erst dann taufen zu lassen, wenn ich Gott oder eines seiner Wunder physisch vollziehen konnte. Da die Baptisten eine Gemeinschaft waren, die nur bei frei geäußerten Stücken die Taufe durchführten, mussten Vater und Mutter, ihren eigenen Ansprüchen folgend, letztlich klein beigeben. So kam ich also an die Highschool. Als ketzerisches Kind eines Mitglieds des Ku Klux Klan.

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Mein Vater hatte seine Überzeugungen, die er jedoch niemals seiner Familie oder seiner Umgebung aufs Auge drückte. Es genügte ihm, mit sich selbst seinen Pakt geschlossen zu haben. Dafür war ich ihm rückblickend sehr dankbar. Er war kein Tyrann, kein Schläger, kein Ignorant. Er war, wie er eben war. Kein Engel, aber auch kein Teufel. Vermutlich war er nicht einmal ein Rassist, obgleich man es von ihm erwartete. In der Zeit, in der ich aufgewachsen war, gab es gerade am Land, innerhalb der Familien noch reißfeste Bande und Normen. Man ging zur Kirche, wählte die Republikaner und schimpfte auf die Steuern, die allesamt die Demokraten eingeführt hatten. Als Amerikaner, noch mehr noch jedoch als Bürger des sogenannten Südens, liebte man die Freiheit. Viel mehr liebte man aber die Vorstellung, von einem harten, unbarmherzigen König regiert zu werden, der die gewünschte Ordnung wieder herstellte. Ich war mir ziemlich sicher, dass auch mein Vater so dachte. Was meine Mutter betraf, so blieb sie in solchen Fragen stets neutral. Was nicht bedeutete, dass sie keine Meinung hatte oder glaubte, ihr stünde darüber keine Meinung zu. Ganz im Gegenteil. Ich hatte es oft erlebt, dass es meine Mutter war, die die Vertreter von Santomon mit ihren gierigen Forderungen von Hof jagte und ein später nachgebessertes Angebot abnickte. Mama hatte Herz. Einen guten Teil auch Verstand. Aber sie hatte keinen Mut. Sie stand dort, wo man sie einst hingesetzt hatte und harrte an unveränderter Stelle aus. In guten, wie in schlechten Zeiten. Dennoch. Die Menschen dachten zu dieser Zeit noch im und ans Kollektiv. An die Gemeinschaft. Später wünschte ich mir oft, dass es wieder mehr von diesen Leuten, diesem Geist geben würde. In Zeiten, wo der Egoismus alles um sich herum zerfraß.

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Wir hatten nach dem Besuch des Hexenmeisters und noch vor Großvaters Tod keine schwarzen Landarbeiter mehr eingestellt. Welche Macht diese Organisation über meine Familie hatte, wurde mir erst viel später bewusst. Damals sah ich all das nur wie durch einen matten Schleier, der mir eine konturlose Welt offenbarte. Mein Vater spritzte seine Baumwollfelder mit neuen, revolutionären Unkrautvernichtungsmitteln, die uns abzüglich der Kosten einen kleinen, aber feinen Mehrgewinn bescherten. Diese Herbizide töteten restlos alles, was auf einem Acker wuchs, ausgenommen der angebauten Kulturpflanze. „Ein Segen!“, hatte Paps damals frohlockt. Ja, es war ein Segen. Und gleichzeitig auch sein Untergang. Es mussten freilich an die drei Jahrzehnte vergehen, bis mir das bewusst wurde.

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