LESEPROBE
Kapitel 1
DIESE WELT
Novembertage
„Vierzigste,
Ecke Fünfte!“, sagte ich zum Fahrer und schlug die Tür hinter mir zu. Ich
blickte mich kurz im Fahrgastraum um und entdeckte eine grüne, aus Gummi
gefertigte Maske, die auf der Fußmatte nebenan lag. Ein Überbleibsel aus der
vergangenen Halloweennacht. Der Lenker brummelte nur etwas Unverständliches und
das Taxi fuhr ab. Ein paar Blocks schnurgerade Richtung Süden waren keine allzu
einträgliche Fuhre. Alltagsgeschäft eben. Ich schloss meine Augen. Kehrte an
den Ort zurück, den ich gerade verlassen hatte. Das Schwarzhaarige Mädchen von
Egon Schiele tauchte wieder vor mir auf. Jenes Bild, das ich noch vor wenigen
Minuten so intensiv, so inbrünstig im Museum of Modern Art studiert hatte. Es
ganz und gar verschlang. Mich zerrissen fühlte, bis ich endlich verstand. Oder
zumindest zu verstehen glaubte, was der an der Spanischen Grippe zugrunde
gegangene Maler dem Betrachter offenbarte. Schon morgen würde ich mich erneut
dieser Prüfung unterziehen. Bei einem anderen Bild, einem anderen Genie.
„Neun Dollar 50,
Lady“, forderte der Chauffeur seinen Lohn. Alles war auf ein Minimum reduziert
worden. Unsere Sprache, unsere Gestik, unser Menschsein. Wir trieben nur noch.
Klammerten uns ans Treibholz. Ich öffnete Augen und Portemonnaie und gab ihm
einen Zehner.
„Happy
Halloween“, verabschiedete ich mich und trat auf den Bürgersteig. Leichter
Regen setzte ein. Ich schulterte meine klobige, schwarze Handtasche und strich
durch mein schulterlanges, brünettes Haar. 42 Jahre alt. Die Hälfte davon hatte
ich geträumt, irgendwann einmal hier zu leben. Mitten in Manhattan. Nun war es
geschehen. Doch ich verspürte nichts dabei. Außer der lähmenden Angst, die sich
quer durch meinen Körper verbreitete. Ich ging in das kleine
Lebensmittelgeschäft eines gebürtigen Syrers namens Ahmet und ließ mir in
dünnen, weißen Plastiktüten mein Abendessen einpacken. Eine Zweiliterflasche
Orangensaft, Fladenbrot, Oliven, Käse und eine süße orientalische Köstlichkeit,
deren Namen ich mir nicht merken konnte. Wieder auf der Straße huschte ich
durch den stärker werdenden Niederschlag und trat rasch unter das kurze Vordach
des Hotels, in dem ich seit ein paar Tagen logierte. Die Zimmer im Yardiott
wurden je nach Saison und Ausstattung zwischen 150 und 200 Dollar pro Nacht an
Touristen oder Geschäftsreisende verhökert. Eigentlich ein stolzer Preis, nicht
aber für New Yorks 5th Avenue. Ich hatte mit dem Manager gesprochen und wurde
schließlich für 500 Dollar pro Woche, ein halbes Jahr im Voraus, in einem
Queen-Size-Room im 26. Stock einquartiert. Cash, versteht sich. Ohne
Zimmerservice. Wäschetausch alle sieben Tage. Staubsauger und Putzutensilien
konnten bei den Etagenmädchen ausgeliehen werden. Ich hatte seit Kindheit an
genügsam gelebt. Und würde das solange weiter tun, bis der Krebs in mir mich zerfressen
hatte.
*
Nachdem ich
meine Mahlzeit an dem schmalen Schreibtisch neben der Fensterfront eingenommen
hatte, legte ich mich auf die Polstercouch gegenüber und machte den Fernseher
an. Zappte mich durchs Programm und blieb schließlich bei einer Sendung über
Astronomie hängen. Das Gesetz der Sterne hatte mich stets fasziniert, mich
mitunter jedoch auch meines eigenen Lebenssinns beraubt. Im Bestreben etwas zu
begreifen, was nicht zu begreifen war. Hier in diesem urbanen Moloch, diesem
Meer aus Licht waren die funkelnden Punkte am nächtlichen Himmel nicht zu
erkennen. Und damit verschwand für die Menschen auch der Blick nach draußen.
Die Demut vor wahrer Größe und Schönheit. Wer keine Sterne sah, sah nur noch
sich selbst. Und den kleinen Haufen, den er aus dem Erdboden scharrte. So hatte
ich schon immer gedacht. Auch zu jenen Tagen, an denen ich noch Ideale vor mich
her trug. An denen ich noch an etwas glauben wollte. Doch diese Tage waren
gezählt. Noch ehe ich jenen verhängnisvollen Anruf erhalten hatte. Ich entsann
mich an diesen Tag zurück, während vom Bildschirm an der Wand der mächtige
Jupiter seine wütenden Kreise zog.
*
„Dr. Jones“,
meldete sich die Stimme des Betriebsarztes, als ich den Hörer zu meinem
Büroanschluss abgenommen hatte. „Dr. Wincastle hier. Kommen Sie doch im Laufe
des Nachmittags zu mir rüber. Die Untersuchungsergebnisse sind da.“ Mitarbeiter
der Forschungslabors mussten sich alle drei Monate einem gründlichen
Medizincheck unterziehen. Das war Standard. Nicht Standard hingegen war, dass
man nach Auswertung der Tests angerufen wurde. Irgendetwas konnte also nicht
stimmen. Ich brach daher die Analyse der Versuchsreihe ab, die wir uns am
Vortag vorgenommen hatten, und ging auf direktem Weg zu Wincastle’s
Ordinationsraum.
„Spucken Sie es
aus, Doktor“, forderte ich mein Gegenüber ohne Umschweife auf, während ich mich
in den breiten Drehlederstuhl vor seinem Schreibtisch setzte. Wincastle’s Blick
ging nach unten. Hin zu einem Fluchtpunkt, in den er sich zu verkriechen
suchte. Das war an seiner ganzen Körperhaltung herauszulesen. Er atmete tief
und schwer, ehe er sich sammelte und mir dann direkt ins Gesicht sah.
„Wie lange
kennen wir uns jetzt schon, Mary?“, stellte er mir eine etwas zu durchsichtige
Frage. Er wollte Zeit gewinnen. Was das in mir wachsende Unwohlsein gerade noch
förderte. Nichts desto trotz spielte ich mit.
„Seit ich hier
angefangen habe, Clarke. 15 Jahre ist das mittlerweile her.“ Er nickte wohl
wissend. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatten wir so etwas wie Gefühle zu
einander gehegt. Doch es war nie über einen heißen Flirt hinaus gegangen. Wie
so oft in meinem Leben.
„Ich habe mir
gemeinsam mit Professor Byton aus der Zentrale die Ergebnisse der
Magnetresonanz Ihres Bauchraumes angesehen.“ Byton war der Chefarzt des
Unternehmens, das in Saint Louis seinen Hauptsitz hatte. Dazu kamen
Niederlassungen in 31 Bundesstaaten und viele weitere auf der ganzen Welt. Der
Doktor blickte mich nun sehr ernst an, während mein Pulsschlag in den Ohren zu
pochen begann. „Bauchspeicheldrüsenkrebs“, würgte er auf weitere Umschweife
verzichtend hervor. Ich riss meine Augen weit auf. Saß wie vom Donner gerührt
da. Ich hatte mit viel gerechnet. Doch nicht mit einem Todesurteil.
*
Ich zog den
weißen Hotelduschvorhang zur Seite, stieg in die emaillierte Schale und drehte
an einer klobigen Armatur. Es dauerte eine Weile, ehe sich das Wasser erwärmte
und die Strahlen wohltuend mein Gesicht umspülten. Nach der Diagnose von Dr.
Wincastle hatte ich alles über Bauchspeicheldrüsenkrebs in Erfahrung gebracht,
was ich zuvor noch nicht wusste. Auch wenn man die Erkrankung bei mir bereits
im Frühstadium erkannt hatte, stand mir nur eine dreiprozentige
Überlebenschance ins Haus. Das war eindeutig zu wenig. Deshalb schlug ich es
nach gründlicher Überlegung auch aus, mich operieren zu lassen oder mich
langwieriger, schmerzvoller Chemotherapien zu unterziehen. All das würde nichts
am Unausweichlichen ändern. Wenn ich Glück hatte, konnte ich mit hoch dosierten
Schmerzmitteln noch ein Jahr leben, ehe die Verdauungssäfte alles in mir
zerstörten. Sie hatten bereits damit begonnen. Fraßen sich durch Nieren, Leber,
Magen und Darm. Die entarteten Zellen teilten sich. Aus einer wurden zwei. Aus
zwei wurden vier. Aus vier dann acht. Bis die Metastasen ihren vernichtenden
Würgegriff um alle Organe in meinem Körper gelegt hatten. Und kurze, aber
schwere Pein schließlich das Ende besiegelte. Es gab keine Chance auf Heilung,
wenngleich mir die Ärzte das immer wieder zu suggerieren versuchten. Wohl in
der Hoffnung, mich nicht vollends in die Verzweiflung zu treiben. Doch ich war
Mary Jones! Und in mir reifte Plan.
*
Da ich die mir
verbleibende Zeit nicht in Krankenhäusern oder Ambulatorien verbringen mochte, dämpfte
ich meine langsam an Bauch und Rücken beginnenden Schmerzen mit Medikamenten.
Gegen Übelkeit und Völlegefühl ging ich gleichermaßen vor. Dr. Wincastle hatte
aufgrund meiner Weigerung, mich in laufend überwachte ärztliche Behandlung zu
begeben, meine Lebenserwartung um sechs Monate nach unten korrigiert. Für das,
was ich vor hatte, würde die Zeit reichen. Die Alternativen waren Chemo und
Bestrahlung. Doch das würde das Unvermeidliche bloß qualvoll in die Länge
ziehen. Ich hing sehr an meinem Leben. Wie jeder andere Mensch auch. Aber es
gab Momente, in denen man Prioritäten setzen musste. Ein halbes Jahr in
Freiheit klang besser als ein Ganzes in steter Abhängigkeit. Ich zog die
Vorhänge zur Seite und blickte vom 26. Stock hinab auf die 5th Avenue. Es war
früh am Morgen und ich hatte etwas geschlafen. New York hatte das
augenscheinlich nicht. Zumindest zogen die kleinen Ameisen da unten weiter
unablässig ihre Linien über die Straßen und Bürgersteige der Stadt. Ich ging zurück
zum Bett, schüttelte die Kopfpolster auf, zog das Leintuch glatt und schlug die
schwere Nachtdecke auf. Dann brühte ich am Kocher etwas Wasser auf, schenkte es
in eine kitschige Tasse und rührte Instantkaffee hinein. Zwei Löffel Zucker
dazu und ein Donut vom Vortag. Ich brachte mein bescheidenes Frühstück an die
Fensterbank und ging im Pyjama zum Nachtkästchen, woraus ich einen kleinen
Schlüssel entnahm. Diesen steckte ich in den Griff eines der insgesamt drei
aneinander gereihten Fenster und schloss es auf. Aus Sicherheitsgründen und um
Selbstmorden vorzubeugen, hielten Hotelbetreiber stets ihre Fenster
geschlossen. Doch ein paar Klicks im Internet genügten, um sich entsprechendes Gerät
zu besorgen. Ich öffnete und sog ein paar intensive Atemzüge lang die kalte,
durch mein Gesicht wehende Luft ein. Dann machte ich wieder zu. Ich wollte
nicht unnötiges Aufsehen erregen. Nach dem Frühstück ging ich ins Bad, wusch
mich, putzte die Zähne und entledigte mich schließlich meines Nachtgewandes. Anschließend
öffnete ich die Tür zum schmalen Wandschrank und legte mir die Kleidung für den
kommenden Tag zurecht. Ich hatte 42 Jahre lang wie ein Uhrwerk gelebt. Wieso
sollte der bevorstehende Tod plötzlich etwas daran ändern? Nun, eine Neuerung
war doch in mein Leben getreten. Ich kleidete mich endlich so, wie ich es immer
wollte, mich aber niemals getraute. Vielleicht aus Scham, viel mehr aber aus
Unsicherheit. Ich hatte meine Weiblichkeit nur sehr selten ausgelebt, da ich
mich als Wissenschafterin in einer von Männern dominierten Welt behaupten
musste und wollte. Das ging besser in Hosen und Turnschuhen als im Rock mit
High Heels. Und da ich kein Bewusstsein für meinen Körper entwickelt hatte, verleugnete
ich ihn kurzerhand. Doch seit ich vor einigen Tagen die Seile, oder besser
gesagt die Fäden zu meiner Vergangenheit durchschnitten hatte, getraute ich
mich Frau zu sein. Ohne Verklemmung, ohne Angst es zu zeigen. Also streifte ich
Lingerie von Victoria’s Secret über, hüllte meine Beine in hauchzarte, schwarze
Nylons und zog ein schickes Kostüm an, das ich mir bei Saks gekauft hatte.
Anschließend schlüpfte ich in meine Pumps, nahm meine Handtasche an mich und
verließ das Zimmer. Als ich unten im Foyer mit dem Lift angekommen war, spürte
ich den Blick eines Mannes auf mir ruhen, der mich verstohlen von der Seite her
betrachtete. Ich strahlte mit meinem roten Lippenstiftmund in seine Richtung
und ging hinaus auf die Straße.
*
Ich hatte mir
vielleicht mein Selbstbewusstsein, meine Identität ein Stück weit zurück erobert,
meine Einsamkeit war jedoch geblieben. Und die Zeit war zu knapp, um daran noch
groß etwas zu ändern. Nachdem ich Piet Mondrian’s Komposition in Braun und Grau
mit meinen Augen fast zerfressen hatte, kehrte ich dem Museum den Rücken und ließ mich etwas durch die Häuserschluchten treiben. Da es am
frühen Nachmittag jedoch empfindlich kalt wurde und meine hochhackigen Schuhe
höllisch zu drücken begannen, setzte ich mich kurzerhand ins nächstbeste Lokal.
Irgendwo in der Nähe des Times Square. Ich hatte keine Lust, mir ein Musical
anzuschauen, wofür in diesem Teil Manhattans beinahe auf jedem Meter Werbung
gemacht wurde, also bestellte ich entgegen aller Gewohnheiten ein Glas Chardonnay
und trank es am Tresen in zwei Zügen aus. Der Barkeeper sah mich fragend an und
ich nickte. Noch eins. Ich stellte meine Tasche vor mir ab, holte einen kleinen
Spiegel hervor und checkte kurz mein Makeup.
„Sie sehen toll
aus“, vernahm ich plötzlich eine Stimme. Ich drehte mich nach links und sah
einen Mann etwa in meinem Alter, der drei Hocker weiter vor einer unordentlich
gefalteten Zeitung und einem Glas Whiskey saß. Ich wusste nicht recht, was ich
darauf sagen sollte. Die Männer, mit denen ich die letzten Jahre zu tun hatte,
fanden mich, wenn überhaupt nett. Charmant, wenn es hoch ging und der
Promillepegel nach der Arbeit stieg. Aber toll. Das hatte ich noch von keinem
gehört. Doch ich hatte die letzten anderthalb Jahrzehnte auch zum Großteil in
einem Nest namens Marshall, Missouri und nicht in New York City zugebracht. Da
verlor man leicht den Bezug zur Welt da draußen, verklärte sich die Optik. Ich
lächelte leicht, aber würdevoll und widmete mich dem vor mich hingestellten
Getränk. Es war ruhig hier drinnen. Überraschend ruhig für einen Ort wie
diesen. Die Musik aus dem Radio tönte nur sehr diskret durch den Raum und die
obligatorischen Fernseher an den Wänden fehlten gänzlich. Ich fühlte mich hier
irgendwie in meine Studienzeit zurückversetzt. Nach Clarksville, wo ich
Biologie und Chemie studiert hatte. Dort hatte es auch solche Lokale gegeben.
Was wohl aus ihnen geworden war? In einer der Sitznischen saß ein älteres Paar,
vor einem Spielautomaten stand ein junger Kerl in Arbeitskleidung. Vermutlich
ein Paketdienstfahrer beim verfrühten Feierabend. Ehe ich mein Glas leer hatte,
kam der Barmann auf mich zu. Hinter ihm funkelten die Flaschen im schalen Licht
der hoch an der Decke hängenden Lampen.
„Dieser
Gentleman möchte Sie noch auf ein Getränk einladen. Akzeptieren Sie?“ Er
deutete dabei auf den Herrn, der mich zuvor schon angesprochen hatte. Ich
betrachtete ihn nun näher. Er trug einen schwarzen Anzug, der nach Wall Street
aussehen sollte, aber nicht von der Wall Street war. Man konnte mich ohne
weiteres als Landei bezeichnen. War ich doch am Lande aufgewachsen, hatte am
Lande studiert und auch am Lande, in der Provinz ein Gutteil meines Lebens gearbeitet.
Dennoch war auch an mir die Zeit nicht achtlos vorüber gerauscht. Trotz dieser
offensichtlich falschen Fassade, sah ich etwas an diesem Menschen, was mich
interessierte. Es war sein Blick, der mich für ihn einnehmend traf. Sein
Gesicht war nicht schön, aber es hatte Charakter. Ich spürte das in jeder
kleinen Furche, die es überzog. Also nickte ich kurz. Der Mann stand auf und
setzte sich neben mir hin.
„Sie haben
Zweifel, meine Dame“, eröffnete er die Unterhaltung. Ich wollte darauf etwas
erwidern, doch er ließ mich nicht. „Nein, nicht was mich betrifft. Nein, Sie
haben an sich selbst Zweifel.“ Wie recht er damit hatte. Er las etwas an mir,
was wie in großen Lettern gemeißelt in meinem Gesicht stand.
„Was bringt Sie
zu dieser Annahme, mein Herr?“, fragte ich vielleicht etwas zu zickig. Doch er
überhörte es.
„Sie fühlen sich
mit Makeln behaftet. Vor allem, was Ihr Äußeres betrifft. Was Ihre Seele
betrifft, so brauche ich dafür noch etwas mehr Zeit, um sie zu ergründen. Doch
seien Sie gewiss. Sie irren. Sie sind schön. Wunderschön. Und es hätte nicht
dieser Aufmachung bedurft, Ihnen das zu sagen.“ Dabei besah er meinen ganzen
Körper. Ich spürte, dass ich zu erröten begann.
*
Seine Stöße
drangen bis ins tiefste Innere von mir vor. In beiderlei Hinsicht. Ich schrie
vor Lust ebenso wie vor Schmerz. Doch genau diese Urgewalt war es, die ich in
diesem Augenblick brauchte. Mein Körper, in denen die Zangen des Krebses
unbarmherzig scharrten, wurde von einer Welle der Ekstase durchgebeutelt. Immer
und immer wieder. Je wilder sein Glied in meine Scham drang, desto befreiter
fühlte ich mich. Ich spürte es ein Mensch zu sein. Mit allen meinen Sinnen. Mit
all den unendlichen Gefühlen, die damit einhergingen. Erst als seine Kräfte
schwanden, animalischer Schweißgeruch durch meine Nase drang und der Akt
endete, indem er sich in einem Kondom entleerte, kam ich wieder zur Besinnung. Stand
auf, gab ihm einen Kuss auf die Stirn und verschwand aus dieser Absteige, die
irgendwo in der 42. Straße lag. Irgendwo in einer Welt, die bald nicht mehr die
meine sein würde. Es sei denn, ich konnte mich selbst überwinden.
*
Nachdem ich
erfahren musste, Bauchspeicheldrüsenkrebs zu haben, war ich in ein tiefes Loch
gefallen. Ich war direkt beim Gang zurück in mein Büro zusammen gebrochen und
musste von einer Kollegin, die mir eigentlich nicht sehr nahe stand, nach Hause
gebracht werden. Der Chef der Forschungsabteilung war in Kenntnis gesetzt
worden und hatte mir bis auf Weiteres frei gegeben. Es war für alle klar, dass
ich in Anbetracht der Umstände nicht wieder zur Arbeit kommen würde. Und da die
Firma Santomon für derartige Ereignisse gewappnet und versichert war, wurde mir
bereits wenige Tage nach Bekanntgabe der Diagnose der Vorruhestand inklusive
einer Abfertigungssumme angeboten. Mir blieb nichts mehr, als darin
einzuwilligen, räumte mein Büro und ging ohne Abschiedsparty, ohne Torte,
Konfetti und Punsch weg. Auch meinen Bungalow, mein kleines Häuschen am
Betriebsgelände gab ich auf und verstaute einen Großteil meines Hab und Guts in
einem sehr langfristig anmietbaren Abteil bei einer Möbeleinlagerung. Nachdem
ich mich wieder etwas erholt und die auf mich zukommenden Realitäten begriffen
hatte, war ich nach New York gegangen und hatte mich in dieses Hotel
eingemietet. Die wenigen Freunde, die ich in all den Jahren behalten hatte,
rieten mir gegen das Unternehmen gerichtlich vorzugehen, doch ich winkte ab.
Ein Prozess gegen Santomon würde Jahre dauern. Jahre, die ich nicht hatte. Zudem
hatte ich ganz genau gewusst, worauf ich mich mit dieser Firma eingelassen
hatte. War zu einem Zeitpunkt dahinter gekommen, an dem es für mich als integre
Wissenschafterin bereits zu spät war. Aber womöglich noch nicht als Mensch, der
einen guten Teil seines Lebens noch vor sich hatte.
*
Ich saß vor
meinem Laptop im Hotelzimmer und stellte mir auf den Bildschirm starrend,
während Fotos aus meiner Vergangenheit nach und nach eingeblendet wurden, immer
wieder die gleiche Frage. Was machte ein Mensch, der den Tod vor Augen hatte?
Ich wusste darauf keine Antwort. Meine Eltern waren tot. Meine Geschwister
hatten Familien gegründet. Wieso ihnen zur Last fallen? Wer wollte schon seinen
Kindern zumuten, eine sterbende Frau ins Haus zu holen? Sich von Freunden
verabschieden? Auch dazu fehlte mir der Mut, die Kraft, die Intention. Ich
würde einsam sterben. Das machte mir am meisten zu schaffen. Ohne jemals
wirkliches Glück verspürt zu haben. Ohne die Geburt eines Kindes durchgestanden,
ohne jegliche Spur in den Sand der Erinnerung gesetzt zu haben. War das mein
Vermächtnis? Kein Vermächtnis zu haben? Auf ewig vergessen im Kosmos umher zu
schwirren. Im Staub der Geschichte auf immer versunken. Ohne Vergangenheit,
Gegenwart oder Zukunft. Einfach nur ausradiert. Wie eine Fliege am Fensterglas.
Ich war eine Frau des Verstandes. Doch hier setzte er aus. Es gab Dinge, die
nicht zu begreifen waren. Die das eigene Ich zum Nichts zerdrückten. Vielleicht
nahm ich mich aber auch nur zu wichtig. Zu einzigartig in einer Welt, in der
jeder einzigartig sein wollte. Ich stellte den Laptop beiseite und legte mich
ins Bett. Strich sanft über meine Nylonstrümpfe. Hätte ich eine Empfindung ins
Jenseits oder wo auch immer mitnehmen können, dann diese. Diesen zarten Touch
von Chemie auf meiner Haut.
*
Ich hatte mir in
Tribeca die verrückte Lesung eines verrückten Poeten angehört und war danach
durch Chinatown geschlendert. Die Wetterfrösche hatten Schneefall vorher gesagt
und so erwarb ich an einem Stand mit taiwanesischer Ware ein billiges Paar
Stiefel und zwei Häuser weiter einen Wintermantel aus Pelzimitat. Es würden die
letzten Ausgaben für meine Garderobe sein. Daran gab es nichts mehr zu rütteln.
In einer Garküche bestellte ich einen großen Topf Hühnersuppe mit langen,
hauchdünnen Nudeln darin und trank dazu eine Tasse Grünen Tee. Ich hatte
beschlossen, am kommenden Tag mit dem Schreiben meiner Memoiren zu beginnen. Vielleicht
würde mir das jene Erinnerung verschaffen, wonach ich mich so sehnte. Da die
Zeit zur Vollendung dieses Vorhabens drängte, würde ich künftig nur noch selten
mein Hotelzimmer verlassen. Bloß, um irgendetwas zu Essen einzukaufen. Solange mein
langsam sterbender Körper nach Nahrung verlangte, musste ich sie ihm auch zuführen.
Auf dem Weg zur Untergrundbahn spürte ich, wie sich alles in mir zusammen zog.
Ich öffnete meine Handtasche und schluckte einige Pillen runter. Mittlerweile
hatte ich gelernt, das auch ohne Wasser zu bewerkstelligen. Die Messer stießen wieder
einige Millimeter tiefer in meinen Leib. Der Schmerz war nun mein treuester
Begleiter. Sechs Monate hatte Wincastle gesagt. Davon war eines fast schon
durch. Beim Abgang in die Metro stand ein alter Mann, der rauchend Zeitungen
verkaufte. Ich nahm eine, gab ihm ausreichend Trinkgeld und bat ihn um eine
Zigarette.
„Gerne, Lady“,
lächelte er mich an, blickte kurz meine Beine hinab und gab mir schließlich Feuer.
Ich hatte seit meiner Zeit am College nicht mehr geraucht. Und es danach
niemals mehr vermisst. Dennoch sog ich nun gierig das Nikotin in mich ein. Ehe
es vorüber war, wollte ich all die Sinne, all die Gefühle dieses Lebens noch
einmal in mir, an mir und um mir verspüren.
Lebenslinien
Ich wurde am 14.
März 1972 in Pulaski, Tennessee geboren. Von unserer Baumwollfarm in Nutbush
aus wären es nur etwa 50 Meilen bis ins nächste Spital mit Endbindungsstation
gewesen, doch mein Vater fuhr die ganzen 170 Meilen Richtung Osten, da in
Pulaski der Ku Klux Klan gegründet wurde und Frank Jones es als heilige Pflicht
ansah, seine Tochter, oder wie er insgeheim gehofft hatte, seinen Sohn auf
diesem historischen Flecken Erde das Licht der Welt erblicken zu lassen.
*
Ich hatte drei
Geschwister. Meine beiden Brüder Frank jun., der der Einfachheit halber Junior
gerufen wurde und Peter, sowie meine Schwester Sally. Als erstes in meinem noch
so jungen Leben erinnerte ich mich an die weißen Baumwollfelder, die unsere
Familie bewirtschaftete. Die reifen, geöffneten Kapseln sahen aus wie kleine
Wattebäusche, die am Ende von dünnen, braunen, nach oben ragenden Ruten hingen.
Doch dieser Schein trog. Wie so vieles im Leben. Denn griff man unachtsam nach
diesen Tupfern, schnitt man sich an den scharfkantigen Hülsen, die die
Baumwolle ummantelten. Wir lebten in einem typischen Haus im Stil der ersten
Siedler. Weiß getünchte Bretter an der Fassade, eine ausladende Veranda vor der
Eingangstür. Im Inneren des Gebäudes hatte freilich längst die Moderne Einzug
gehalten. Fließend Wasser, Strom, Kühlschrank, Fernseher, Waschmaschine. Eine
Farmerfamilie, die es durch harte Arbeit zu bescheidenen Wohlstand gebracht
hatte. Neben meinen Eltern und meinen Geschwistern lebte auch mein Großvater
mit im Haus. Als die Jüngste von allen war es mir zugedacht, seinen Erzählungen
zu lauschen. Vom zweiten Weltkrieg. Von seinem Vater, der im ersten Weltkrieg
ausgeblieben war. Von der liebevollen Strenge, die ihm seine Mutter angedeihen
hatte lassen. Von seinen Brüdern und Schwestern. Vom Überlebenskampf in Zeiten
der Weltwirtschaftskrise. Von seiner Frau, meiner Großmutter, die viel zu früh
gestorben war. Ich verstand das damals alles nicht, begriff es nicht und hatte
es dennoch verinnerlicht. Weil es mir wert erschien, die Erinnerungen eines
anderen Menschen zu behalten.
*
Baumwolle anzubauen,
nahm mehr oder weniger das ganze Jahr in Anspruch. Die Aussaat erfolgte im
Frühling, die Ernte im Herbst. Aufgrund der langen Wachstumszeit und der
unterschiedlichen Reifung war nach der Ernte eine schnelle Feldbestellung und
Neuaussaat notwendig, um mit dem Zyklus der Natur schritt halten zu können.
Zudem erforderte der Baumwollanbau einen hohen Einsatz von Wasser und
Chemikalien. Ich erinnerte mich daran, was mein Vater zu Junior sagte: „Ich bin
in der falschen Branche, mein Sohn. So, wie es meine Vorväter auch schon waren.
Diese Gauner von Santomon kassieren jedes Jahr Unsummen für Saatgut und Pflanzenschutzmittel
von mir. Rühren dabei aber keinen Finger, während uns die ganze Plackerei
bleibt. Nein. Du wirst zur Universität gehen und dann dort bei denen
einsteigen. Ich werde der letzte Jones sein, der sich für andere die Finger krumm
und wund arbeitet.“ Er wiederholte das in regelmäßigen Abständen. Meistens,
nachdem er eine halbe Flasche Whiskey getrunken hatte.
*
Zu Beginn der
Erntezeit war immer sehr viel Betrieb im Haus, denn unsere Verwandten kamen aus
dem ganzen Bundesstaat angereist, um eine Woche auf den Feldern mitzuarbeiten.
Das geschah eher aus alter Gewohnheit, denn aus Notwendigkeit, weil wir
längstens eine selbst fahrende Baumwollerntemaschine einsetzten und nicht mehr
per Hand pflückten. Diese sieben Tage sollte alle eher daran erinnern, mit wie
viel Mühsal frühere Generationen ihren Lebensunterhalt verdienen mussten. Papa
war kein großer Freund dieser Familientreffen, weil er für alle Gäste aufkommen
musste und die Ernte in dieser Zeit unrentabel war, aber Großvater bestand
darauf und damit war der Fall erledigt. „Die Qualität handgepflückter Baumwolle
ist um ein Vielfaches höher als jene, die maschinell geerntet wird.“ Womit der natürlich
nicht unrecht hatte. Denn die Erntemaschine pflückte alle Kapseln ab. Egal ob
unreif, reif oder überreif, während die menschliche Hand nur zu den Reifen
griff. Selbst Opa war klar, dass seine Argumentation aus wirtschaftlichem
Gesichtspunkt hinkte und er in Wahrheit bloß an einem Anachronismus festhielt.
Es bereitete ihm aber schlichtweg Freude, alle, oder zumindest viele Mitglieder
der Familie einmal im Jahr beisammen zu haben. Und nicht weniger Spaß hatte er
daran, meinem Vater vor Augen zu führen, dass er zwar im Ruhestand war, aber
weiterhin die Zügel straffen konnte, wenn ihm danach beliebte.
*
In der letzten
Woche, ehe ich eingeschult wurde, waren die Jones’ wieder unter unserem Dach
zusammen gekommen. Onkel und Tanten, Vettern und Cousinen. Wir Kinder wurden in
die Scheune ausquartiert, während die Erwachsenen im Haus eng aneinander
rückten. Die Mahlzeiten wurden an einem langen, provisorisch zusammen
gezimmerten Tisch eingenommen, der zwischen der Rückseite meines Elternhauses
und dem Fuhrpark stand. Dicht neben dem großen Gemüsegarten, der inklusive der
Küche zum uneingeschränkten Reich meiner Mutter zählte.
„Schätzchen“,
hatte sie mich zu sich gerufen, als ich am großen Zuber vor der Veranda meiner
Morgentoilette nachging. „Nimm deinen Cousin Harry hier mit und hol mir fürs
Frühstück einen kleinen Korb voll Eier aus dem Hühnerstall.“ Harry hielt das
dafür auserkorene Behältnis bereits in Händen und so gingen wir gemeinsam zum
etwas abseits gelegenen Verschlag für die Hühner. Dort sammelten wir die über
Nacht gelegten Eier ein. Harry kicherte dabei immerzu. Er lebte mit seinen
Eltern und seinem Bruder in Memphis und hatte keinerlei Kenntnis im Umgang mit
Tieren. Die meisten unserer Verwandten waren in die Städte gegangen und hatten
dem harten Farmersleben den Rücken gekehrt. Sie waren nun Buchhalter, Kaufleute
oder Handelsreisende. Ich kannte Memphis nur vom Hörensagen und als Harry ein
Ei entglitt und es zu Boden fiel, schreckte er zurück, als hätte er das Unglück
dieser Welt freigesetzt.
„Sind alle so
ungeschickt wie du in Memphis?“ Er begann wieder zu kichern und sah mich plötzlich ganz komisch an. Dann gab er mir
einen Kuss. Ganz feucht. Genau auf die Lippen. Ich wich vor Schreck zurück. Was
sollte das denn? Ehe ich mich wieder sammelte, rannte er weg. Ich dachte
während des ganzen Frühstücks darüber nach, warum er das getan hatte und als
wir die schmutzigen Teller zum Abwaschen in die Küche trugen, wurde es mir
klar. Er wollte nicht, dass ich ihn wegen des Eis verpetzte. Was ihm auch gelungen
war. Hier widerfuhr mir zum ersten Mal in meinem Leben, wie berechnend Männer
sein konnten.
*
Trotz aller
Vorsicht waren meine Fingerkuppen schon nach kurzer Zeit völlig zerschnitten
und brennender Schmerz durchfuhr meine Hände. Mein Vater kam zu mir her und
unterwies mich.
„Pass bloß auf,
dass du nicht zu bluten beginnst, ansonsten ist die Baumwolle unbrauchbar.“ Ich
zog den Leinensack, der sich nur sehr langsam füllte, hinter mir her und
konzentrierte mich auf die von mir verlangte Arbeit. Pflückte monoton die reife
Baumwolle ab und versuchte mich an den Samenkapseln nicht zu verletzen. Ich
hatte einen freudvollen Bezug zur Natur und meiner Umwelt entwickelt, inmitten
dieses Feldes sah ich aber nichts anderes als Millionen von Baumwollpflanzen.
Kein Unkraut, keine Insekten, nicht einmal Vögel. Man konnte meinen, alles um
mich herum wäre tot. Steril, einem einzigen Zweck untergeordnet. Die Natur war
hier gezähmt. Auf ein Minimum reduziert. Auf jenes Gewächs, dass Profit
brachte. Mir war nur nicht klar, wie so etwas funktionieren konnte. Wo doch auf
den angrenzenden Wiesen Blumen blühten und Bienen summten.
*
Ob meine Eltern
sich wirklich liebten, blieb für mich ein niemals gelüftetes Geheimnis.
Zumindest hielten sie aber zusammen, wenn es hart auf hart kam. Und in einer
Branche, in der man laufend den an Warenbörsen notierten Preisen unterlag, die
gesichtslose Männer in schwarzen Anzügen festlegten, konnte es mitunter auch
hart auf hart kommen. Rechnungen waren zu begleichen, Hypotheken zu bedienen.
Das ewige Schicksal des zwischen Mühlsteinen aufgeriebenen Mittelstandes. Mitunter
konnte es schon einmal laut im Hause Jones werden, zu Gewalt kam es aber nur
sehr selten. Und wenn, dann traf es Junior, der für seine Unbedarftheiten ein
paar Ohrfeigen von Vater kassierte. Dabei schien ihm gewahr zu werden, dass
sein ältester Sohn für eine von ihm angestrebte Hochschullaufbahn wohl eher
nicht in Frage kam.
*
Nutbush, der
Geburtsort von Tina Turner, war geprägt von der im Umkreis betriebenen
Landwirtschaft. Eigentlich drehte sich in dem verschlafenen, vielleicht 300
Einwohner zählenden Nest alles um die Baumwolle. Es gab zwei Kirchen, eine für
Baptisten, die wir besuchten und eine für Methodisten, eine Schule, eine Kneipe
und einen Gemischtwarenladen. Fertig. Ja, und die Entkörnungsanlage, zu der wir
die maschinell geernteten Ballen brachten, um die Baumwollfasern von den
Kapseln und Samen zu trennen. Unsere Farm befand sich südlich des Ortes am
Highway 19 zwischen Ripley und Brownsville. Wir waren also irgendwo im
Nirgendwo. Ein perfekter Ort für Treffen von Mitgliedern einer Organisation,
die zu dieser Zeit vorzugsweise im Dunklen agierte.
*
Es war in meinem
ersten Schuljahr, als ich dahinter kam, dass sich Vater einmal im Monat,
jeweils an einem Samstag, mit einer kleinen Ledertasche in der Hand aus dem
Haus begab, den nahen Highway überquerte und im Wald dahinter verschwand. Meine
Geschwister schliefen um diese Zeit bereits, doch ich las zumeist noch heimlich
in einem Buch unter der Bettdecke mit eingeschalteter Taschenlampe. Sally’s und
mein Bett standen neben dem Fenster, während Peter und Junior gegenüber, im
Bereich der Zimmertür ihre Schlafstatt hatten. Eines Abends hörte ich ihn
wieder weggehen und kletterte kurzerhand aus dem Fenster im Obergeschoß aufs
Terrassendach und sprang von dort hinunter auf den Boden. Ich hatte eine
Heidenangst, doch wissbegierig wie ich war, wollte ich dieses Geheimnis lüften.
Also folgte ich dem, die Dunkelheit durchschneidenden Licht, huschte über die
zu dieser Nachtzeit nur selten befahrene Straße und drang im gebührlichen
Abstand zu meinem Vater in die dichte Vegetation jenseits ein. Es dauerte etwa
fünf Minuten, ehe ich an eine Lichtung kam, an der ein kleines Lagerfeuer
loderte. Mein Vater begab sich zu einer Gruppe Männer, die dort flüsternd
beisammen standen, gab jeden die Hand und öffnete schließlich nach kurzer Zeit,
so wie die anderen auch, seine Tasche und holte ein weißes Gewand hervor, dass
er über seine Straßenkleidung zog. Als das geschehen war, stülpte er eine nach
oben spitz zusammen laufende Kapuze über. Ich kauerte mich dicht an den Stamm
eines Baumes und besah mir mit klappernden Zähnen das Schauspiel, das sich daraufhin
offenbarte. Die Männer, die sich zu Gespenstern verwandelt hatten, bildeten
einen Kreis um ein aus Birkenholz gefertigtes Kreuz, das stellenweise mit
Stoffresten umwickelt war. Dann erhob einer von ihnen, es war nicht zu erkennen
welcher, seine Stimme und trug einen Monolog vor, der mich an ein Gebet in der
Kirche erinnerte. Nur dass die Aussage mit Sicherheit keine religiöse war. Ich
verstand nicht, was dort genau gesagt wurde, aber es befremdete mich noch mehr
wie das ganze Szenario an und für sich. An der Tonlage waren Wut, Zorn und
Bitterkeit deutlich herauszuhören. Dieser Eindruck verstärkte sich, als jemand
aus dem Feuer eine Fackel zog und das provisorische Kreuz entzündete, das
augenblicklich in lodernden Flammen aufging. Ich erschrak dermaßen, dass ich
kurz davor war die Fassung zu verlieren und laut aufzuschreien. Doch im letzten
Moment brachte ich noch meine Hände vor dem Mund und konnte so die von mir
ausgehenden Laute weitgehend unterdrücken. Mit aufgerissenen Augen und blankem
Entsetzen im Gesicht floh ich von diesem Ort. Was hatte mein Vater bloß hier zu
suchen? Warum beteiligte er sich an einem derart gruseligen Ritual? Darauf fand
ich keine Antwort. Auch nicht, als ich zitternd wie Espenlaub, in meine
Bettdecke gewickelt, in die Finsternis des Zimmers starrte.
*
Miss Gatsby hieß
meine Lehrerin an der Grundschule. Sie stammte aus Louisville in Kentucky,
hatte dort jedoch keine Arbeit gefunden und wurde kurzerhand in unser
verschlafenes Nest geschickt. Es war ihre erste Stelle als Lehrerin und sie
hatte Schwierigkeiten, sich an die schlichten Verhältnisse in Nutbush zu gewöhnen,
doch sie gestaltete ihren Unterricht sehr anschaulich und mit großer
Liebenswürdigkeit. Miss O’Gready, die die Klasse mit den etwas älteren Schülern
wie Junior und Peter unterwies, beäugte ihre neue Kollegin mit sichtlichem
Unbehagen. Sie war eine glühende Anhängerin der Rohrstock-Pädagogik und
praktizierte diese auch mit außerordentlichem Fleiß. Nicht Wissensdurst und
Individualität, sondern Angst und Unterordnung waren die Lehrmeister, denen sie
den Vorzug gab. Das erfuhr ich jedoch nur selten, wenn Miss Gatsby verhindert
war und die alte Jungfer die ABC-Schützen mit unterrichtete. Meine Lehrerin,
die ich die ganze Grundschule lang behielt, förderte meine Stärken und
bereitete mich auf das vor, was im Leben noch auf mich zukommen sollte. „Merke
dir, kleine Mary“, hatte sie mir offenbart, als ich ihr nach dem Unterricht ein
ausgeliehenes Buch über die Grundlagen der Botanik zurückgab, „nicht dein
Körper ist entscheidend. Nein, einzig und alleine dein Geist.“ Für die 70er
Jahre war sie eine bemerkenswert moderne Frau. Doch irgendwie spürte ich, dass
ihr äußerlich zur Schau gestelltes Selbstbewusstsein bloß Fassade war. Auch an
ihr waren die Spuren des Kampfes gegen die Widrigkeiten des Lebens nicht
verwischt worden.
*
Meine Schwester
Sally, mit der ich gemeinsam die Schulbank drückte, war ein Jahr älter als ich.
Wir mochten uns sehr und verbrachten viel Zeit miteinander. Es war nicht so wie
bei Peter und Junior, die ihrer eigenen Wege gingen. Nein, mit Sally auf der
Farm herumzutollen machte wirklich Spaß. Zu anderen Kindern hatten wir abseits
der Schule, dem Kirchgang und den gelegentlichen Gemeindefesten nur sehr wenig
Kontakt. Farmersfamilien im Westen Tennessees blieben in der Regel unter sich.
So wurde meine Schwester bald auch zu meiner besten Freundin. Wir pflückten
Blumen, versuchten kleine Fische mit bloßen Händen am nahen Bach zu fangen oder
spielten am Betriebsareal verstecken. Sally hatte eine künstlerische Ader. „Du
kannst das ausdrücken, was ich nur zu beobachten imstande bin“, hatte ich einmal
zu ihr gesagt. Sie war eine hervorragende Zeichnerin. Schon im Kindesalter
fertigte sie Skizzen an, die von Schönheit, Phantasie und Präzision nur so
strotzten. Sally steckte ihre Nase direkt in die Welt hinein, während ich meine
in Büchern vergrub. Das unterschied uns. Brachte uns aber auch zusammen.
*
1964 wurde mit
dem Civil Rights Act die Rassentrennung juristisch aufgehoben, 15 Jahre danach
spukte sie aber nach wie vor in den Köpfen der Menschen. Wenngleich auf
subtilere Art als zuvor. Die schwarzen Kinder, die mit mir zur Schule gingen,
saßen in den hintersten Reihen. Ihre Eltern hielten sich vom öffentlichen Leben
weitgehend fern. Nur beim sonntäglichen Kirchgang waren sie wirklich unter uns.
Wenngleich sie auch dort auf ihren angestammten Bänken Platz nahmen. Die
Schwarzen in Nutbush waren Tagelöhner, die auf den Farmen die schwere
körperliche Arbeit übernahmen und mit ihren Familien in schäbigen Häusern am
Ortsrand wohnten. Sie entluden die schweren Baumwollballen bei der
Entkörnungsanlage, hoben Be- und Entwässerungsgräben aus oder wuchteten
Saatgutsäcke auf Traktoranhänger. Und nicht einmal hatte ich gehört, dass sie
dabei Lieder anstimmten. Klischees verdeckten schon immer die Sicht auf die
Wahrheit.
*
Eines Abends
wurden wir Kinder direkt nach dem Essen zu Bett geschickt. Bei Vater, und noch
mehr bei Großvater, war bereits den ganzen Tag über eine gewisse Spannung
bemerkbar gewesen, während Mutter ungerührt den Abwasch machte, von dem wir
ausnahmsweise befreit worden waren, nach getaner Arbeit ihre Schürze abnahm,
eine Karaffe mit drei Gläsern auf den Wohnzimmertisch stellte und anschließend
das Haus in Richtung Garten verließ. All das hatten wir vier am Boden vor
unserer Zimmertür liegend beobachtet. In der Hoffnung, von unten nicht erkannt
zu werden. Die beiden Männer saßen wortlos am Sofa neben dem Kamin und starrten
zur Eingangstür. Wie Patienten in einem Warteraum, die darauf hofften, dass sie
endlich aufgerufen wurden. Es dauerte vielleicht fünf Minuten, ehe es an der
Tür klopfte. Die alte Standuhr, ein Familienerbstück unbekannten Ursprungs,
schlug gerade sieben. Mein Vater stand wie in Trance auf und öffnete.
„Guten Abend,
Hexenmeister“, begrüßte er den Gast unterwürfig und bat ihn einzutreten. Ein
ungestüm wirkender Kerl mit einem langen Bart erschien in meinem Blickfeld. Er
trug einen grauen Anzug und behielt seinen Hut am Kopf. Wie unhöflich, dachte
ich bei mir. So wie ich, starrten auch meine Geschwister gebannt auf das sich
uns eröffnende Szenario. Nachdem sich auch mein Großvater erhoben und
umständlich Höflichkeiten ausgesprochen wurden, auf die der Hexenmeister jedoch
kaum reflektierte, wurden die Gläser vollgeschenkt und Platz genommen. Wir
mussten unsere Köpfe nun stark zur Seite recken, um noch etwas erkennen zu
können.
„Du beschäftigst
schwarze Landarbeiter, wie mir zu Ohren gekommen ist, Jones.“ Der
grobschlächtige Mann blickte dabei direkt in Vaters Gesicht. Dieser kam nicht
herum, darauf zu antworten.
„Ja, so wie die
meisten hier auch.“
„Die meisten.
So, so“, kam es von seinem Gegenüber. „Die meisten sind aber auch nicht
Mitglied beim Klan. Haben keinen Eid auf unsere Rasse geschworen. Du aber
schon, Frank Jones!“ Großvater schaltete sich nun ins Gespräch ein.
„Die Schwarzen
arbeiten eben billiger als die Hillbillies. Wir müssen auf unsere Kosten
achten. Außerdem haben Schwarze immer auf den Baumwollfarmen hier gearbeitet.
Im ganzen Süden. Vor und nach dem Ende der Sklaverei.“ Der Hexenmeister stand
auf und leerte sein Glas.
„Zu Zeiten der
Naturalpacht war das auch kein Problem für uns, weil die Sklaverei weitgehend
fortgesetzt wurde. Bloß unter einem Deckmantel. Aber die Zeiten haben sich
geändert. Wir stehen heute mit dem Rücken zur Wand. Und David Duke hat es auch
vermasselt. Dazu kommt diese Sache in Greensboro.“ Er holte tief Luft.
„Ezechiel Jones!“, sprach er meinen Großvater mit drohender Stimme an. „Eure
Sippe ist seit der Gründung des Klans dabei. Treu, wie kaum eine andere
Familie. Sicher, ihr wart immer unauffällig und zurückhaltend. Hättet durchaus
mehr für unsere Sache tun können. Aber immerhin. Ihr seid bei der Stange
geblieben. Von anderen darf man das leider nicht behaupten. Jetzt aber beschäftigt
ihr Nigger und schämt euch nicht einmal dafür. Soll ich das dem Großen Drachen
berichten?“ Beide zuckten bei der Erwähnung dieses Namens augenblicklich
zusammen. Wenige Augenblicke später fiel Junior eine seiner Murmeln aus der
Hand und landete am gefliesten Küchenboden. Wir drängten daraufhin gleichzeitig
zur Tür und verschwanden polternd in unserem Zimmer. Nachdem wir eine Weile
ängstlich unter unseren Bettdecken verharrt hatten, hörte ich, wie eine Autotür
ins Schloss fiel und sich das darauf folgende Motorengeräusch langsam
entfernte.
*
Großvater starb
kurz nach dem Fest, welches zu Ehren seines 70. Geburtstages für ihn
ausgerichtet wurde. „Gott sei Dank hat er noch einmal mit der ganzen Familie
beisammen sein können“, spendete meine Mutter ihrem Ehemann Trost. Die beiden
hatten ihre Differenzen gehabt, im Grunde waren sie sich jedoch ziemlich gleich
gewesen. Vater saß nach dem Begräbnis auf der Veranda und rauchte eine
Virginia. Ich wollte ins Haus gehen, doch er rief mich zu sich.
„Du hast deinen
Großvater gemocht“, stellte er für sich selbst fest. „Und doch warst du die
einzige, die heute nicht geweint hat. Auch nicht die Tage zuvor. Warum, Mary?“
Ich setzte mich auf seinen Schoß. So, wie ich es immer tat, wenn wir die Nähe
zueinander fanden.
„Ich weine nicht
um ihn, weil ich seine Erinnerung in meinem Herzen trage.“ Ich wusste es nicht
mit Sicherheit, aber in diesem Moment wurde meinem Vater endgültig klar, was
die Zukunft für uns bringen würde. Und für einen kurzen Moment behandelte er
mich erstmals in meinem Leben so, als wäre ich eine Erwachsene. Was mich ebenso
stolz, wie auch nachdenklich stimmte.
„Du bist klug,
Kleines. Die Klügste von allen. Ich habe das sehr früh an dir erkannt. Und
gegen den Rat deines Großvaters dir all die Dinge gekauft, die du dort oben in
deinem Zimmer stehen hast. Die Bücher, den Taschenrechner, das kleine
Mikroskop. Selbst ich weiß nicht, was du damit treibst, aber ich erkenne den
Fleiß, der dich antreibt.“ Er strich dabei sanft durch mein schulterlanges
Haar. „Und Fleiß ist die Triebfeder für Erfolg. Junior wird einmal diese Farm
hier übernehmen. Er ist geschickt mit den Händen, aber nicht mit dem Kopf.
Peter geht nach Memphis zu Onkel Matthew. Er kann rechnen und Matt wird ihn zu
einem Kaufmann machen. Und Sally“, seufzte er in kurze Gedanken versinkend.
„Ja, Sally wird wohl heiraten. Sie hat alles, was eine gute Frau braucht.“ Ich war
im Begriff zu widersprechen, weil ich in Sally eine begnadete Künstlerin sah,
doch mein Vater, dem bei dieser ganzen Unterhaltung die Tränen ob des Tods
seines eigenen Vaters in den Augen standen, kam mir zuvor. „Ja, sie ist ein
Schöngeist. Eine Blume. Doch all das vergeht. Ich bin nur ein einfacher Bauer.
Aber ich habe gelernt zu beobachten. Die Natur, die Tiere, die Menschen. Ich
kenne ihre Reaktionen. Und ich erkenne, was geschehen wird. Sally ist zu zart,
zu sanft für diese Welt. Sie wird jemanden brauchen, der ihr im Sturm
beisteht.“ Ich hatte ihn niemals so sprechen hören. So klar. So weise, wie er
mir in diesem Moment vorkam.
„Und ich?“,
fragte ich ihn hoffnungsvoll.
„Du, mein
Schatz“, gab er daraufhin von sich. „Du wirst das tun, wofür es Junior am
nötigen Grips fehlt. Du wirst zur Universität gehen.“ Ich lächelte ihn
schüchtern an. „Aber sei vorsichtig“, entgegnete er auf diese Mimik. „Als
Mädchen wird dir nichts geschenkt werden. Du wirst härter arbeiten müssen als
alle anderen. Doppelt so hart. Und doch werden dir manche Türen verschlossen bleiben.“ Ich verstand das nicht. Warum sollte ich weniger Wert sein als ein
Junge? Denn darauf lief seine Aussage letztlich ja hinaus. Doch ehe ich
imstande war zu ergründen was er meinte, stand er auf und verschwand hinter der
Fliegengittertür im Haus. Ich sah, dass er leicht hinkte. Der
Schrapnellsplitter aus Vietnam forderte einmal mehr seinen Tribut.
*
Ich war elf, als
ich zur Highschool in Ripley kam. Das brachte sehr viele Veränderungen für mich
mit. Ich musste mich von meiner Mentorin Miss Gatsby ebenso verabschieden wie
von meinem kleinen Klassenzimmer in Nutbush. Von nun an war ich auf mich
gestellt. Spätestens dann, wenn ich mich nach zehn Meilen Fahrt mit dem
Schulbus von Sally, Junior und Peter verabschiedete, um meine Kurse zu
besuchen. Ich hatte mich neben den Pflichtfächern in sämtliche aufbauende
Lehrgänge eingetragen, die irgendetwas mit Wissenschaft zu tun hatten. Für ein
Sportteam hatte ich mich ebenso wenig interessiert wie für das Erlernen eines
Musikinstruments. Also meldete ich mich in Ermangelung an Alternativen für den
Literaturkurs an, um der Norm genüge zu tun. Was mich jedoch wirklich erpichte,
war die Erweiterung und Ordnung meiner mittlerweise teils chaotisch
zusammengetragenen Kenntnisse über die Schöpfung. Ich wollte endlich wissen,
wie aus einer Hypothese ein Gesetz werden konnte. Wie man anhand eines
Laborexperiments Rückschlüsse auf reale Ereignisse ziehen konnte. Schlichtweg,
ich wollte wissen, wie diese Welt funktionierte. Es hatte mir noch niemals
genügt, die Dinge gegeben hinzunehmen. Das begann bei meiner Hinterfragung
Gottes, als mir unser Baptistenpastor die Taufe schmackhaft machen wollte. Was
zu einer Verstimmung zwischen mir und meinen Eltern führte, da ich mit der Begründung
ablehnte, mich erst dann taufen zu lassen, wenn ich Gott oder eines seiner
Wunder physisch vollziehen konnte. Da die Baptisten eine Gemeinschaft waren,
die nur bei frei geäußerten Stücken die Taufe durchführten, mussten Vater und
Mutter, ihren eigenen Ansprüchen folgend, letztlich klein beigeben. So kam ich
also an die Highschool. Als ketzerisches Kind eines Mitglieds des Ku Klux Klan.
*
Mein Vater hatte
seine Überzeugungen, die er jedoch niemals seiner Familie oder seiner Umgebung
aufs Auge drückte. Es genügte ihm, mit sich selbst seinen Pakt geschlossen zu
haben. Dafür war ich ihm rückblickend sehr dankbar. Er war kein Tyrann, kein
Schläger, kein Ignorant. Er war, wie er eben war. Kein Engel, aber auch kein
Teufel. Vermutlich war er nicht einmal ein Rassist, obgleich man es von ihm
erwartete. In der Zeit, in der ich aufgewachsen war, gab es gerade am Land, innerhalb
der Familien noch reißfeste Bande und Normen. Man ging zur Kirche, wählte die
Republikaner und schimpfte auf die Steuern, die allesamt die Demokraten
eingeführt hatten. Als Amerikaner, noch mehr noch jedoch als Bürger des
sogenannten Südens, liebte man die Freiheit. Viel mehr liebte man aber die
Vorstellung, von einem harten, unbarmherzigen König regiert zu werden, der die gewünschte
Ordnung wieder herstellte. Ich war mir ziemlich sicher, dass auch mein Vater so
dachte. Was meine Mutter betraf, so blieb sie in solchen Fragen stets neutral.
Was nicht bedeutete, dass sie keine Meinung hatte oder glaubte, ihr stünde
darüber keine Meinung zu. Ganz im Gegenteil. Ich hatte es oft erlebt, dass es
meine Mutter war, die die Vertreter von Santomon mit ihren gierigen Forderungen
von Hof jagte und ein später nachgebessertes Angebot abnickte. Mama hatte Herz.
Einen guten Teil auch Verstand. Aber sie hatte keinen Mut. Sie stand dort, wo
man sie einst hingesetzt hatte und harrte an unveränderter Stelle aus. In
guten, wie in schlechten Zeiten. Dennoch. Die Menschen dachten zu dieser Zeit
noch im und ans Kollektiv. An die Gemeinschaft. Später wünschte ich mir oft,
dass es wieder mehr von diesen Leuten, diesem Geist geben würde. In Zeiten, wo
der Egoismus alles um sich herum zerfraß.
*
Wir hatten nach
dem Besuch des Hexenmeisters und noch vor Großvaters Tod keine schwarzen
Landarbeiter mehr eingestellt. Welche Macht diese Organisation über meine
Familie hatte, wurde mir erst viel später bewusst. Damals sah ich all das nur
wie durch einen matten Schleier, der mir eine konturlose Welt offenbarte. Mein
Vater spritzte seine Baumwollfelder mit neuen, revolutionären
Unkrautvernichtungsmitteln, die uns abzüglich der Kosten einen kleinen, aber
feinen Mehrgewinn bescherten. Diese Herbizide töteten restlos alles, was auf
einem Acker wuchs, ausgenommen der angebauten Kulturpflanze. „Ein Segen!“,
hatte Paps damals frohlockt. Ja, es war ein Segen. Und gleichzeitig auch sein
Untergang. Es mussten freilich an die drei Jahrzehnte vergehen, bis mir das
bewusst wurde.
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