Michael Koller, geboren am 14. März 1972, lebt in Hoheneich bei Gmünd im Waldviertel. Nach Abschluss der Handelsakademie war er in unterschiedlichen Berufszweigen tätig und lernte so den Facettenreichtum des Lebens bestens kennen. Seine Leidenschaft war und ist das Schreiben. Zeitungsartikel, Kurzgeschichten, Gedichte, Romane und Internetblogs umreißen das Repertoire des Enfant Terribles der Waldviertler Schreibzunft. Mit »Fallstricke« debütiert er als Krimiautor. Schön und grob. Harsch und liebevoll. Kaum alltäglich. Damit sind die Leitmaximen von Michael Kollers Schaffen treffend umschrieben.
Kurzbeschreibung:
Der Lokalreporter Michael Wörner führt ein beschauliches Leben. Ein Haus mit Garten, eine wundervolle Frau und ein aufgewecktes Kind. Das ändert sich, als der Landespolitiker Fuhrmann mit aufgeschnittener Kehle nahe einem gerade neu eröffneten Aussichtsturm aufgefunden wird. An möglichen Motiven mangelt es nicht, und schon gar nicht an potentiellen Tätern: Parteifreunde, politische Gegner, Wirtschaftsleute und Personen aus Fuhrmanns persönlichem Umfeld. Wörner beginnt zu recherchieren, doch je tiefer er in diese Welt voll Hinterlist, Täuschung, Lüge und Verbrechen eindringt, desto stärker begibt er sich in persönliche Gefahr.
Einschätzung:
Ein Krimi, so authentisch wie die Wirklichkeit. Der Mord an einen Landrat erschüttert alles. Die Gesellschaft, den Glauben, den Anstand, das Leben. Einer der aufsehenerregensten Krimis des 21. Jahrhunderts. Geschrieben vom Enfant Terrible der Waldviertler Schreibzunft. Vom Webmaster des unvergleichlichen SV Eibenstein. Alltagskost war gestern. Realität ist heute. Hart und schonungslos. Sanft und einschmiegsam. Wie das Leben selbst, so präsentiert sich auch dieser unkonventionelle Krimi. Spannung bis zuletzt garantiert!
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LESEPROBE
Tag 1
Der Klingelton bohrte sich in meinen Kopf. Durch jede Windung meines Gehirns. Mit geschlossenen Augen tastete ich über den Nachttisch. Bis ich das Handy endlich in Händen hielt. Es musste noch sehr früh am morgen sein. Zumindest ließ mein schlaftrunkener Zustand diese Annahme zu. Langsam öffnete ich die Augen und drückte die Taste mit dem grünen Telefonhörer. Soviel konnte ich gerade noch auch ohne meine Brille erkennen. Den Schriftzug am Display, der den Anrufer ankündigte, jedoch nicht.
„Hallo?“, murmelte ich vor mich hin. Das Telefon nur halb am Ohr.
„Mach’, dass du aus dem Bett kommst!“, befahl die Stimme am anderen Ende der Leitung. Es war der Chefredakteur der Zeitung, bei der ich als Reporter arbeitete. Peter Hollaus. Was wollte er bloß an einem Sonntagmorgen von mir? „Im Naturpark ist eine Leiche gefunden worden. Mit durchschnittener Kehle. Am Polizeifunk hat sich einer verplappert. Der Tote ist allen Anschein nach Ernst Fuhrmann.“ Unvermittelt fuhr ich hoch. Meine Sinne waren mit einem Schlag zurückgekehrt und endgültig dem Reich der Träume entflohen. Ich räusperte mich.
„Fuhrmann? Aber den habe ich gestern Abend noch gesehen. Bei der Turmeröffnung.“ Bevor ich weiter sprechen konnte, fiel mir Peter ins Wort.
„Und die ist ihm anscheinend nicht gut bekommen.“ Er hatte keinen allzu scharfen Sinn für Humor. „Wie auch immer. Du wohnst ja gleich um die Ecke. Ich will, dass du da sofort hinfährst und dich umsiehst. Mach Fotos. Rede mit den Polizisten und den anderen Kollegen, die sicher schon wieder vor uns da sind. Das komplette Programm. Ich rufe dich später für weitere Infos an. Und jetzt raus aus den Federn!“
Die Verbindung wurde unterbrochen. Ich legte das Handy ab und setzte meine Brille auf. Dann stieg ich aus dem Bett und öffnete die Vorhänge. Ein Blick auf den Radiowecker verriet mir, dass es zwanzig Minuten nach sieben war. Meine Frau Susan war bereits weg. Ihre Schicht im Krankenhaus begann um Punkt sieben Uhr. Ich schlüpfte in meine Hausschuhe und begab mich ins Bad. Unsere beiden Katzen schliefen auf der kleinen Bank im Vorzimmer.
Während ich mir die Zähne putzte und mich rasierte, versuchte ich mich an die gestrigen Ereignisse zu erinnern. An die Eröffnung des neuen Aussichtsturms im Naturpark „Steinheide“, die von zahlreicher regionaler Prominenz aus Politik und Wirtschaft besucht worden war. Auch von Landrat Ernst Fuhrmann, der die Festrede gehalten hatte. Und nun nicht mehr am Leben war. Ich ging ins Obergeschoß unseres Einfamilienhauses und öffnete vorsichtig die Tür zum Kinderzimmer. Meine kleine Tochter Julia lag noch in ihrem Bettchen, die kuschelige Decke über ihr Kinn gezogen. Ich betrachtete sie eine Weile mit stolzem Blick und machte dann wieder kehrt. Julia war gerade sieben Jahre alt geworden und sie freute sich schon auf ihr zweites Schuljahr nach den Sommerferien. Ich ging zurück ins Schlafzimmer und kleidete mich an. Dann rief ich Gerti Wallner, unseren guten Geist aus der Nachbarschaft an. Wir waren seit vielen Jahren miteinander befreundet und sie half mir immer wieder mal aus der Patsche. Ohne große Erklärungen abzuwarten versprach sie, gleich rüber zu kommen, um Julia Gesellschaft zu leisten. Nach diesem Gespräch informierte ich auch meine Frau, ohne jedoch zu sehr ins Detail über die Gründe meines Ausflugs zu gehen. Das hatte bis Abend Zeit. Zudem wusste ich ja auch selbst so gut wie nichts.
Ich warf Notebook, Digitalkamera, Diktiergerät und Schreibblock in meine kleine Umhängetasche. Als ich mir gerade die Schnürsenkel band, läutete es an der Tür. Ich öffnete und begrüßte Gerti. Sie war im Herbst sechzig geworden. Auf mich wirkte sie eher wie fünfundvierzig. Voll von Lebensgeist, Tatendrang und Freude. All die Schicksalsschläge, die ihr Leben begleiteten, hatten ihr nichts anhaben können. Nur der Tod ihres Mannes hatte leichte Spuren hinterlassen. Spuren, die sie nicht wegwischen konnte. Sie war von mittlerer Statur und hatte krauses Haar. Hinter ihrer spitzbübischen Miene verbarg sich die Würde und Erhabenheit, die die pensionierte Volksschuldirektorin zeitlebens ausgestrahlt hatte. Ich küsste sie auf die Wange, schnappte die Tasche und bedankte mich. Es bedurfte keinerlei Einweisungen. Gerti Wallner kannte sich hier bald besser aus als ich selbst.
Dann war ich auch schon weg. Ich war in Eile. Ich schritt durch den Garten zur Garage. Vorbei an der hohen Hecke, die zur Straße hin gepflanzt war. Vorbei an den reifen Obstbäumen.
Es war ein strahlend schöner Morgen. Die Sonne erleuchtete den Himmel auf ihrem unaufhaltsamen Weg zum Zenith. Wohlige Wärme durchströmte meinen Körper. Der Sommer war eine herrliche Jahreszeit. Voll des Lebens. Voll sprießender Natur. Erst jetzt kam mir wieder der Grund meines Fortgehens in den Sinn. Ein Mord an einem hochrangigen Politiker. Ja, es waren auch die Grausamkeiten, die unter dem Lichte der Sonne hervorgekehrt wurden.
*
Ich stellte meinen Kleinwagen auf dem Besucherparkplatz ab und ging den Schotterweg in Richtung Aussichtsturm hinauf. Auf halbem Weg zwischen Parkeingang und Turm war eine größere Menschenmenge versammelt. Ein Team des Staatsfernsehens hatte sich über das allgemeine Fahrverbot in der „Steinheide“ hinweggesetzt und war mit ihrem Übertragungswagen bis zur polizeilichen Absperrung gefahren. Es war mir schleierhaft, wie die schon hier sein konnten. Obwohl ich nur zwei Fahrminuten zum Parkplatz und maximal weitere zehn Gehminuten bis hierher hatte, schien ich der letztankommende Berichterstatter zu sein. Ich sah mich etwas unter den Leuten um. Neben den TV-Leuten erkannte ich auch zwei Reporter großer Wiener Tageszeitungen. Direkt am Absperrband stand Markus Hirscher, Chefredakteur der „Regionalzeitung“. Unser unmittelbares regionales Konkurrenzblatt. Er unterhielt sich gerade mit einem Streifenpolizisten. Auch ihn kannte ich. Gerber hieß er. Ein typischer Landgendarm der jüngeren Generation. Überheblich und inkompetent. Diese Sorte war auf das Abzocken von Autofahrern spezialisiert. Eine Mordermittlung war zehn Nummern zu groß für ihn. Gerber war auch bei der Presse kein Unbekannter. Zumal ein Vorfall trotz aller Vertuschungsversuche über ihn bekannt geworden war. Er hatte seine Lebensgefährtin mit seiner Dienstwaffe bedroht und war daraufhin mehrmals strafversetzt worden, bis er wieder zu seinem alten Dienstposten zurückkehrte. Statt Gefängnis wurde er weiter auf die Bevölkerung losgelassen. Dass unter solchen Vorzeichen das Image der Exekutive zunehmend Schaden nahm, war eine nur allzu verständliche Tatsache. Polizisten stellten im betrunkenen Zustand ohne irgendeine Grundlage Strafmandate aus, vergingen sich an Schutzbefohlenen und missbrauchten sowohl ihr Amt als auch ihnen anvertraute Ausrüstung. Auch ich war schon in die Fänge dieser Willkür geraten. Darum hielt sich meine Begeisterung für diese Institution verständlicherweise in Grenzen. Ich ging auf Hirscher zu, der gerade sein Gespräch beendet hatte.
„Hallo Max. Was sagt dieses Arschloch?“ Ich hatte noch immer keinerlei Informationen. Markus Hirscher sah mich überrascht an.
„Wenn das nicht Mike Wörner ist. Auch schon hier?“
Ich sah auf den fünfzig Meter entfernten Tatort, der mit schwarzen Tüchern verhangen war. Ich kannte die Stelle sehr gut von meinen Wanderungen mit der Familie durch den Park. Eine kleine Senke zwischen zwei kolossalen Steingebilden, dem so genannten Satansbett und dem Teufelswecken, einem überdimensionalen Hinkelstein.
Leute von der Spurensicherung liefen geschäftig herum. Und irgendwo darunter wohl der leitende Beamte der Kriminalpolizei in Krems, der meine Heimatstadt Mürren unterstand.
Hirscher sprach weiter. „Wie ich sehe, hat dein Chef mal wieder eine Spätzündung gehabt. Ansonsten wärst du schon mindestens vor einer Stunde hier gewesen. Jedenfalls vor mir.“
Ich musterte ihn interessiert. Wir waren zusammen zur Schule gegangen. Und waren sehr gute Freunde gewesen. Wir hatten uns beide für Journalismus interessiert. Während er später in Wien studierte und Karriere machte, langte es bei mir allerdings nur für den Aufbaulehrgang und einer Anstellung beim „Wochenblatt“, einer wöchentlich erscheinenden Gratiszeitung. Umso verwunderter waren wir alle gewesen, als er vor zwei Jahren nach Mürren zurückgekehrte und seinen jetzigen Posten antrat. Vom Starjournalisten im meinungsmachenden „Wirtschaftsblatt“ zum Provinzschmierfink. Er hatte es mit Sehnsucht nach der Heimat, dem Bodenständigen erklärt. Doch dafür war er nie der Typ gewesen. Und die Menschen änderten sich nur allzu selten.
Ich überging den herablassenden Ton in seinen Worten.
„Nun, Du kennst ihn ja. Gründlichkeit braucht nun einmal seine Zeit. Außerdem können wir uns niemanden leisten, der Tag und Nacht den Polizeifunk abhört. Wir sind eben auf Informanten angewiesen. Und die lassen sich mitunter etwas Zeit.“ Ich grinste ihn kumpelhaft an, um vielleicht etwas aus ihm herauszukriegen, obwohl ich es kaum glaubte. Zu oft hatte er mir schon die lange Nase gezeigt und mir seine Überlegenheit demonstrativ untergerieben. Umso verblüffter war ich über seine Antwort.
„Soviel ich weiß, habt ihr am Dienstagnachmittag Redaktionsschluss. Bis dahin wird es selbst bis zu dir durchgedrungen sein. Also kann ich es dir genauso gut auch gleich sagen.“ Er wusste genau, dass ich über keinerlei Informationen verfügte. Er schien sich über soviel Langatmigkeit zu amüsieren. Also packte er die Gelegenheit beim Schopf und wies mich wie einen Schuljungen in den Fall ein, nicht ohne auf jede Menge unterschwellige Häme und Seitenhiebe zu verzichten. Ja, schon in der Schule hatte er mir zeigen müssen, wo es langging. Wie einem etwas begriffsstutzigen Esel.
„Laut Gerber hat ihn ein Pilzsammler um etwa fünf Uhr morgens gefunden. Kehle durchschnitten. Nach den Blut- und Schleifspuren zu urteilen, wurde er knapp neben dem Wegrand ermordet und ein paar Meter in die Senke dort geschliffen.“ Er zeigte auf die Tücherwand. „Sie haben bisher nur mit dem Chauffeur von Fuhrmann gesprochen. Der hat unten am Parkplatz auf dessen Rückkehr gewartet und ist unterdessen eingeschlafen. Wurde erst von der Polizei geweckt.“
Ich überlegte kurz.
„Wann ist er denn von der Feier gegangen? Als ich um neun Uhr verschwunden bin, waren noch alle von seinem Tisch da. Fuhrmann selbst, Vanek, der Bürgermeister, die beiden Vizes, Maurer und Viktoria Buntschuh. Komisch, dass die solange geblieben sind. Normalerweise machen die sich ganz unauffällig aus dem Staub.“
Markus Hirscher nickte zufrieden. Darum also seine Kooperation. Er brauchte auch von mir Auskünfte. Er selbst war ja meines Wissens nach schon sehr früh gegangen. Gleich nach den offiziellen Pressefotos. Sein nächster Vorschlag überraschte mich noch mehr.
„Wenn du willst, arbeiten wir in dieser Sache zusammen. Schließlich haben wir ihn zu einem tatnahen Zeitpunkt noch gesehen. Wenn wir uns austauschen, kommen wir vielleicht dahinter, was da oben vorgegangen ist.“ Er deutete zum hinter uns liegenden Aussichtsturm. Dieser Sinneswandel ließ alle Alarmglocken in mir läuten. Er führte doch irgendetwas im Schilde. Andererseits hatte ich aber auch nichts zu verlieren. Unsere Blätter erschienen beide mittwochs. Er konnte mich also nicht mit einer früheren Veröffentlichung eventuell wichtiger Tatsachen übers Ohr hauen. Zudem hatte ich die Chance, ihn einmal in Aktion zu erleben. Trotz all seiner Allüren war er ein berufliches Vorbild für mich. Er konnte mir vielleicht bei meinen eigenen Unzulänglichkeiten ein wenig weiterhelfen. Und er war einmal mein bester Freund gewesen.
„Okay. Aber verrate mir zuerst, wie du diesen Scheißer von Gerber zum Reden gebracht hast?“
Hirscher schüttelte amüsiert den Kopf. Mit einem Grinsen im Gesicht antwortete er mir.
„Du wirst es nie lernen. Dein Problem ist, dass du zu bieder bist. Zu ehrlich. Du hast keine kriminelle Energie. Ich habe noch immer sehr viele und sehr gute Verbindungen. Daran hat sich durch meinen Wechsel ins Waldviertel nichts geändert. Gerber ist doch schwärzer als die Schafe, die er jagen soll. Und ich habe ein paar Sachen gegen ihn in der Hand. Nichts Weltbewegendes. Aber nach dem letzten Skandal um ihn genug. Also haben wir eine Abmachung. Er plaudert und ich höre zu. Nicht mehr und nicht weniger.“
Hirscher rief seinen Fotografen zu sich und gab ihm letzte Anweisungen, bevor er den Schauplatz verließ. Meine Zeitung konnte sich diesen Luxus nicht leisten. Also heftete ich mich an dessen Fersen, um auch noch ein paar einigermaßen brauchbare Bilder zu bekommen. Ich nickte Max zum Abschied zu. Mit Daumen und kleinen Finger seiner rechten Hand formte er das Telefonzeichen. Ja, wir würden telefonieren. Irgendwann nach Herausgabe der ersten offiziellen Pressemitteilung, die wohl in Kürze erfolgen würde.
Ich machte meine restlichen Aufnahmen und kehrte dann an den mittlerweile zahlreich erschienen Schaulustigen vorbei zum Parkplatz zurück.
Es war inzwischen halb neun. Das Dorfwirtshaus am Naturpark in Alt-Mürren hatte schon geöffnet. Ich setzte mich an den Stammtisch und verfolgte die Berichterstattung im Staatsfernsehen. Die hatten schon wesentlich mehr Informationen zusammengetragen. Aber natürlich auch noch nichts Konkretes. Das würde dauern. Ich bestellte ein kleines Frühstück. Schon bald würde sich das Lokal füllen. Kollegen, Zaungäste, Ausflügler. Ich fragte mich, warum Hirscher nicht auf die Idee gekommen war, hierher zu gehen. Gerade jetzt war das ein idealer Ort für allen möglichen Klatsch. Ich nahm meinen Block aus der Tasche und begann die bisherigen Fakten zusammen zu tragen. Vom Mord an Ernst Fuhrmann. Landrat. Bauunternehmer. Weiberheld. Strippenzieher. Es fielen mir viele Stichworte zu ihm ein. Machtgierig. Aalglatt. Rücksichtslos. Mit allen Wassern gewaschen. Ich stellte mein Notebook auf den Tisch und stieg ins Internet ein. Die Quelle allen Wissens. Dort, wo sich Politiker gläsern darstellten. Und Gegner die glatt polierte Oberfläche zerfurchten. Die Wahrheit lag wie üblich irgendwo dazwischen. Irgendwo im Niemandsland. Irgendwo verborgen hinter endlosen Hürden.
*
Die erste Pressekonferenz nach dem Mord an den bekannten Landespolitiker Ernst Fuhrmann wurde schon am frühen Nachmittag im altehrwürdigen Palmenhaus der Stadt Mürren abgehalten. Mein Chefredakteur hatte mich telefonisch darüber unterrichtet. Dieses Mal war ich einer der ersten vor Ort. Trotzdem nahm ich in den hinteren Reihen Platz und wartete auf das Eintreffen der Behördenvertreter. Ich hatte nicht vor, irgendwelche Fragen zu stellen. In der Regel war das auch nicht nötig, da andere Kollegen etwaige Unklarheiten ansprachen. Ich war nie der Mensch gewesen, der sich besonders hervortun wollte. Das brachte mich beruflich nicht recht weiter, hatte aber auch einen Vorteil. Ich war unauffällig und daher wurde immer wieder einmal ein unüberlegter Satz in meiner Gegenwart gesprochen, den ich für eine Story verwenden konnte. Während andere nach vor drängten, hielt ich mich eher im Hintergrund. Beobachtete. Und erhielt dadurch nicht selten einen besseren Blick auf die Ereignisse. Die Wahrhaftigkeit war nun nicht immer gleich an der Oberfläche zu erkennen. Zudem lohnte sich ein allzu aggressives Auftreten in dieser Region nicht wirklich. Denn es tat sich nie etwas. Nur belanglose Reportagen über irgendwelche Vereine oder Festivitäten. Hin und wieder ein kleiner Aufreger bei einer Gemeinderatssitzung im Umland von Mürren. Wirtschaftsbetriebe in Schieflage oder ein anstehendes regionales Fußballderby waren schon das Höchste der Gefühle. Ansonsten standen in unseren Käseblättern kaum erwähnenswerte Mitteilungen. Und plötzlich kam ein derartiger Fall wie dieser daher. Wie eine frische Brise, die den frustrierenden Alltag wegblies. Nach und nach trudelten die unterschiedlichsten Medienberichterstatter ein. Manche mit breitem Grinsen im Gesicht. Ein Mord in der Politik war immer gut fürs Geschäft. Schließlich wollte sich jeder dazu äußern. Ob Parteifreunde oder Mitbewerber aus den anderen Lagern. Es hatte ja niemand etwas zu verbergen. Und Schweigen würde genau das in die Köpfe der Menschen projizieren. Ja, ja. Nach der Wahl war immer vor der Wahl.
Michaela Schwarz von der „Gratispresse“ nahm neben mir Platz. Ich kannte sie seit ein paar Monaten. Ein hübsches, junges Ding. Ehrgeizig und durchaus kompetent. Es gab im Bezirk Mürren drei Wochenzeitungen. Nummer eins war Hirschers „Regionalzeitung“, gefolgt von meinem „Wochenblatt“. Die „Gratispresse“ war noch nicht so lange auf dem Markt und hatte auch ein schauerliches Niveau. Daran konnte auch Michaela Schwarz nichts ändern. Wenn ich diese Schrift durchblätterte, fühlte ich mich nachher immer eine Spur besser. Ob der Erkenntnis, dass es noch etwas Mieseres als die eigene Zeitung gab. Max kam nun ebenfalls in den Saal, setzte sich jedoch ganz nach vor. Offensichtlich hatte jemand für ihn reserviert. Ja, jeder wo er hingehörte.
Das Staatsfernsehen hatte seine Livekameras aufgebaut und den Licht- und Soundcheck durchgeführt. Man war bereit. Und wie aufs Stichwort traten auch die Protagonisten dieser Veranstaltung aufs Podest und nahmen hinter den Mikrophonen Platz. Ein Mann in zivil, einer in Uniform und eine ziemlich kurzberockte Dame. Ich sah im geistigen Auge Hirscher mit einem anzüglichen Grinsen im Gesicht vor mir. Die Frau war Polizeisprecherin und stellte nach der Begrüßung und einer kurzen sachlichen Einleitung die beiden Herren vor: Franz Berwein, Kommandant der Mürrener Polizei und Robert Brettschneider, den Leiter der Mordkommission „Fuhrmann“. Berwein kannte ich. Ein korpulenter Mitfünfziger. Aufgedunsen und vulgär. Er war nur Beiwerk, um die örtliche Exekutive nicht gleich von Beginn an vor den Kopf zu stoßen. Dennoch würden sie hier nichts zu melden haben. Brettschneider hatte sein eigenes Team. Und wenn er ein Profi war, würde er auch keinen von Berweins Leuten anfordern. Die konnten höchstens einen Jugendlichen aus einer Kneipe ohrfeigen oder einen Angetrunkenen den Führerschein entziehen. Ich musterte den Major. Eine tiefe Aversion machte sich in mir breit. Dieses rattenartige Gesicht. Dieser widerlich fettige Schnauzbart. Diese buschigen, tief gesetzten Augenbrauen. Dieser wulstige Mund. Brettschneider. Wie der Geheimpolizist aus dem „braven Soldaten Schwejk“. Ein wahres Ebenbild. Name und Erscheinung glichen den beiden exakt. Nun, ich hoffte, dass es nicht er sein würde, mit dem ich zu sprechen hatte. Denn soviel war klar. Man würde mich vorladen. Schon alleine wegen der Fotos, die ich am Abend vor dem Mord geschossen hatte.
Die Dame erteilte ihm das Wort. Nach einigen Angaben zum Fundort der Leiche und der Tötungsmethode kam er zum Kern seiner Ausführungen.
„Der Obduktionsbericht liegt natürlich noch nicht vor, aber trotzdem konnte der Tatzeitpunkt bereits eingegrenzt werden. Nach Angaben des untersuchenden Arztes muss der Tod zwischen 23 Uhr abends und ein Uhr früh eingetreten sein. Das deckt sich auch mit den ersten Aussagen, die wir bereits einholen konnten. Demnach hat Herr Fuhrmann die gestrige Veranstaltung in der „Steinheide“ gegen 23 Uhr ohne Begleitung verlassen und sich in Richtung des Besucherparkplatzes begeben. Genaueres werden wir Ihnen nach der Vernehmung der zahlreichen Zeugen mitteilen können. Aufgrund der Art der Tötung gehen wir von einer geplanten Aktion aus. Womöglich die Arbeit eines Experten. Der Tod dürfte Herrn Fuhrmann völlig überraschend ereilt haben.“ Brettschneider erörterte noch die näheren Umstände der Auffindung von Fuhrmanns Körper, schilderte die Maßnahmen, die bisher getroffen wurden und gab auch einen kurzen Ausblick auf die weitere Vorgehensweise seitens der Polizei. Er machte den Eindruck eines abgeklärten, routinierten Ermittlers, der schon durch so manches Stahlbad gegangen war. Was blieb war die Abneigung, die ich ihm gegenüber verspürte. Ich hatte den Eindruck, dass dieser Mann auf schnelle Ergebnisse aus war, wodurch mitunter die Wahrheit leiden konnte. Ein abgeschlossener Fall war alles, was zählte. Wer dafür belangt wurde, spielte kaum eine Rolle. Ich war mir sicher, dass dieser Mann schon so Manchem einen Strick gedreht hatte. Ihm Wörter in den Mund legte, die er später bereute. Ich würde auf der Hut sein müssen, um nicht selber in seine Fänge zu geraten. Ein mögliches Motiv war schließlich schnell konstruiert. Vor allem bei einem Mann wie Ernst Fuhrmann, der sich gewiss viele Feinde geschaffen hatte. Ja, der Weg nach oben war dornig und grausam. Kein Terrain für Zimperliesen.
*
Nach der Pressekonferenz nahm mich Max Hirscher zur Seite.
„Bevor du jetzt zur Polizei läufst und denen deine Fotos gibst, sollten wir uns noch kurz unterhalten.“
Wir suchten die nächstgelegene Kneipe auf. Dort setzten wir uns in eine kleine Nische. Markus sah mich über seine kleinen Brillengläser hinweg an. Er hatte sein schulterlanges, braunes Haar zu einem Schwanz gebunden. Er konnte sich noch nicht eingestehen, älter geworden zu sein. 42, genauso wie ich.
„Was hältst du von der Sache?“, fragte er mich mit seinem unvermeidlich süffisanten Grinsen im Gesicht.
Ja, was hielt ich davon?
„Nun, sieht ganz nach einem Killer aus. Eine Tatwaffe werden sie jedenfalls nicht finden.“ Hirscher strahlte mich an.
„Bravo, mein Junge! Und was folgt daraus?“ Es war genauso wie in der Schule. Auch damals hat er dieses Frage-Antwort-Spiel mit mir durchexerziert, in der Hoffnung, mir die Grenzen meines Verstandes aufzuzeigen und mir gleichzeitig seine Überlegenheit zu demonstrieren. Ich konnte es nicht fassen, dass ich es nach all den Jahren noch immer zuließ. Wie gerade jetzt. Er hatte eine undefinierbare Macht über mich. Wie ein Hypnotiseur, der sein Medium nach langem Schlaf wieder reaktivierte.
„Fuhrmanns Unternehmen soll das neue ‚Grenzlandspital’ bauen. Die tschechischen Mitbetreiber waren darüber nicht sehr erfreut. Schließlich wollten die auch ihre eigenen Firmen an dem Geschäft teilhaben lassen. Hat ja viel böses Blut gegeben.“ Hirscher klatschte in die Hände. Einige Gäste sahen zu uns her. Er feixte sie breit an. Ja, er war ein wahrer Menschenfreund.
„Sehr gut. Und um deinen Gedankengang zu Ende zu führen, bedarf es nicht mehr vieler Worte. Die Grenze ist von hier zweihundert Meter weit entfernt. Zum Aussichtsturm vielleicht anderthalb Kilometer. Drüben in Tschechisch-Mürren schneiden sie dir für einen Apfel und ein Ei die Kehle durch. Ist ja schon fast ein konzessioniertes Gewerbe. Einer der böhmischen Baulöwen wollte Fuhrmann aus dem Weg räumen, um selber an den Futtertrog zu kommen. Der Rest ist einfach. Er heuert einen vertrauenswürdigen Mann an, der in der Dunkelheit sein Messer schwingt wie ein Chirurg sein Skalpell. É voila.“ Er breitete seine Arme leicht aus. „Das Problem ist beseitigt. Der Gegner aus dem Feld geschlagen und die Auftragsvergabe wird neu ausgeschrieben. Dieses Mal mit sicherlich besseren Karten für unseren tschechischen Freund.“
Ich spürte, wie sehr er sich bei dieser durchaus witzig vorgetragenen Analyse selbst gefiel. Markus hatte viele Talente. Brillanter Redner, begnadeter Schreiber, künstlerische Ader. Ein Universaltalent, der einen wunden Punkt hatte. Ich wusste nur noch nicht, wo der lag. Zu selbstbewusst trat er mir stets entgegen. Machte mein eigenes Ego ziemlich klein. Als ich ihn in seiner selbstgefälligen Pose betrachtete, wünschte ich ihn innerlich zum Teufel. Andererseits konnte ich es mir kaum leisten, auf seinen Verstand zu verzichten. Also biss ich mal wieder in den sauren Apfel.
„Sollten wir das mit Brettschneider besprechen?“ Er lachte verächtlich auf.
„Brettschneider! Das ist ein ganz ausgekochter Bursche. Der kommt schon selber dahinter. Da Verlass dich drauf. Wenngleich es ihm kaum schmecken wird. Ermittlungen im Ausland sind nämlich mühsam und führen am Ende zu nichts. Schon gar nicht bei den Tschechen. Die halten doch alle zusammen wie Pech und Schwefel. Der Arme tut mir jetzt schon leid.“ Dieses Mal war sein Lachen amüsiert. „Da wird kein Ruhmesblatt zu ernten sein. Keine Feder für seinen Hut. Und noch dazu werden ihm Öffentlichkeit und Polizeipräsident auf den Pelz rücken. Nimm dich bloß in Acht! Der greift nach jeden Strohhalm.“ Seine Analyse bestätigte meine eigene Intuition. Noch bevor ich darauf eingehen konnte, bekam unser Gespräch eine ganz andere Richtung. Er beugte sich verschwörerisch zu mir rüber.
„Die Polizei wird sich an den Tschechen orientieren. Aber das ist natürlich Quatsch. Es ist phantasielos. Bieder.“ Er blickte mir direkt ins Gesicht. „Die Wahrheit liegt womöglich weitaus tiefer begraben. Überlege. Erinnere dich an gestern. All die Leute, die bei Fuhrmann am Tisch gesessen sind. Bis 23 Uhr! Da war etwas im Gange. Ich bin mir ziemlich sicher, dass der gute Landrat Nägel mit Köpfen gemacht hat, und einigen der Herrschaften dort unverblümt drohte. Denn zumindest eine Leiche hat jeder von denen im Keller.“ Ich wollte mich schon erkundigen, wie er auf diese Vermutung kam, besann mich aber eines Besseren. Ja, seine guten, alten Kontakte. Deutete Hirscher etwa an, dass Fuhrmann seine Tischnachbarn erpresst hatte? Oder dies zumindest suggerierte? Ich schwieg und hörte ihm gebannt zu.
„Da war was im Busch. Und es hat mit dem Spital zu tun. Da bin ich mir sicher. Bis auf Rudi Vanek hat doch jeder mit dem neuen Krankenhaus zu tun. Und da kommst du ins Spiel.“ Ich ahnte worauf er hinaus wollte. Fuhrmann war bei den Konservativen gewesen. Vanek war Nationalratsabgeordneter bei den Sozialdemokraten. Der Partei, für die auch ich einige Jahre gearbeitet hatte. Als Freiberuflicher in der regionalen Pressestelle. „Wir nehmen uns einen nach dem anderen vor. Und mit Vanek fangen wir an. Du warst Schreiberling bei den Sozis. Vergiss einen Augenblick, dass sie dir übel mitgespielt, dich zuerst verarscht und dann fallen gelassen haben. Vielleicht ergibt sich jetzt sogar eine Chance, es zumindest einem von ihnen heimzuzahlen.“ Er wusste genau, wie tief dieser Stachel saß und er nutzte es geschickt aus. Ich biss sofort an.
„Was erwartest du von mir?“ Hirscher setzte eine Unschuldsmiene auf.
„Oh, nichts von großer Bedeutung. Du sollst bloß in Vaneks Büro bei der Bezirksgeschäftsstelle einbrechen.“ Ich verschluckte mich beinahe an meinem kleinen Bier. Bevor ich protestieren konnte, fuhr er fort. „Vanek hat irgendeine Sauerei abgezogen. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Selbst als Nationalrat kann man sich kein derartiges Luxusleben leisten. Schmuck, Villen, fette Autos. Und weiß der Himmel was noch. Ich hab’ ihn schon länger in Verdacht. Die Frage ist, ob Fuhrmann das auch hatte. Und zu diesem Zweck wirst du durch seine Papiere gehen. Du kennst ja den Hausbrauch dort von früher. Irgendeine Gelegenheit wird sich schon bieten. Am ehesten wohl bei Fuhrmanns Begräbnis. Da ist sicher sturmfreie Bude.“ Er zündete sich eine Zigarette an und blies mir den Rauch entgegen. Ich versuchte ihn wegzuwedeln.
„Warum sollte Vanek gerade in seinem Büro belastendes Material aufbewahren? Wenn er viel ist, ein Dummkopf mit Sicherheit nicht.“
Hirscher schüttelte leicht den Kopf.
„Dafür aber du umso mehr.“ Ich starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Das ging nun doch zu weit. Er erkannte die Wut, die plötzlich in mir hochstieg. „Entschuldige. Aber denk nach. Wo sind derlei Unterlagen am Sichersten? Im Büro eines Abgeordneten, der Immunität genießt. Und die aufzuheben dauert. Zumindest lange genug, um sich ein neues Versteck zu suchen.“
Was er sagte, war nicht von der Hand zu weisen. Auch ich hatte mich oft über Vaneks Lebensstandard gewundert. Aber aufgrund eines vagen Verdachtes gleich einen Einbruch begehen? Das musste ich mir zuerst gründlich überlegen. Schließlich hatte ich das Risiko. Und Hirscher? Der rieb sich bei einem Erfolg von mir die Hände. Und wenn ich geschnappt werden würde, wusste er selbstverständlich von nichts. Nein, dafür musste er sich einen anderen Dummen suchen. Ich trank aus und bezahlte. Es war nach sechzehn Uhr. Und ich wollte meine polizeiliche Aussage hinter mich bringen. Was würde Hirscher in dieser Angelegenheit machen? Schließlich war er auch bei der Eröffnung gewesen. Ganz offiziell. Wenngleich auch nicht sehr lange. Ich fragte ihn nicht. Stattdessen stand ich auf.
„Ich werde es mir überlegen.“ Dann verabschiedeten wir uns und ich ging durch die Schwungtür auf die Straße. Es war brütend heiß. Einen Moment lang sehnte ich mich nach der Klimaanlage im Lokal zurück. Aber nur einen sehr Kurzen.
*
Am Polizeirevier herrschte hektisches Treiben. Ständig liefen Beamte die Stufen ins Obergeschoß rauf und runter. Ich wandte mich an den Diensthabenden, der hinter einem großen Pult verschanzt saß.
„Ich bin Michael Wörner, Reporter beim ‚Wochenblatt’.“ Ich streckte ihm meinen Presseausweis hin. Er nahm ihn an sich und beäugte ihn misstrauisch. Wie sehr ich diese Pseudo-Sherlock-Holmes-Visagen hasste. Mit all ihrer nicht zu versteckenden Stumpfsinnigkeit. Der Glatzkopf blickte mich fragend an.
„Ich habe bei der gestrigen Eröffnung des Aussichtsturms Fotos gemacht. Auch von Landrat Fuhrmann. Vielleicht will sich die mal jemand ansehen.“ Ich zog meine Digitalkamera aus der Tasche. Der Polizist musterte mich weiter aufmerksam und griff dann zum Telefonhörer. Bevor er eine Nummer wählte, wies er mir einen Stuhl an der gegenüberliegenden Wand zu.
„Warten Sie dort.“ Ja, keine Ursache. Ist doch selbstverständlich, sich als Zeuge zu melden. Wieder kam alles in mir hoch. Die ganze Angelegenheit vor drei Jahren. Ich nahm Platz und erinnerte mich zurück. Es war am Tag vor Heiligabend gewesen, als zwei Streifenbullen bei mir daheim aufgetaucht waren und mich zur Wache mitgenommen hatten. Man hatte mir Bilder einer Überwachungskamera vorgelegt und mich beschuldigt, diejenige Person zu sein, die mit einer gestohlenen Kreditkarte Bargeld abhob. Man hatte versucht mich in die Enge zu treiben. Die Person auf den Fotos hatte durchaus Ähnlichkeit mit mir. Doch die Aufnahmen wurden in einer Stadt gemacht, die ich in meinem ganzen Leben noch nie betreten hatte. Glücklicherweise konnte ich felsenfest nachweisen, zu besagtem Tatzeitpunkt in einem völlig anderen Teil des Landes gewesen zu sein. Nämlich in meiner Heimatstadt Mürren. Man hätte mich um ein Haar an Weihnachten festgenommen und war dann auch noch ungehalten darüber gewesen, den Falschen erwischt zu haben. Ich hätte mich beinahe dafür entschuldigen müssen. Von diesem Tag an hatte ich nie wieder eine Bank betreten. Und nie wieder irgendeine Sympathie für die Exekutive gehegt. Ich hatte sogar meinen Vorgesetzten gebeten, mich zu keinerlei Reportagen mit Polizeibeteiligung mehr zu schicken. Doch ein Mord war nun einmal etwas anderes.
Nach einer halben Stunde kam endlich ein jüngerer Mann in zivil auf mich zu. Kurzes, blondes Haar. Kantiges Gesicht. Ziemlich athletisch. Trotz seiner martialischen Statur wirkte er irgendwie sympathisch auf mich. Oder war das nur seine Masche, um Vertrauen zu gewinnen? Er trug einen hellgrauen Anzug und stellte sich als Dieter Erhard vor. Seinen Dienstrang verstand ich nicht. Er war mir auch egal. Wir schüttelten uns die Hände und ich folgte ihm in die erste Etage, die ganz offensichtlich von der Kriminalpolizei in Beschlag genommen wurde. Der lange, helle Flur wurde von jeweils vier Büros auf beiden Seiten flankiert, deren Türen allesamt geschlossen waren. Dennoch konnte ich teilweise sehr erhitzte Stimmen vernehmen. Man hatte also mit den Verhören begonnen.
Erhard öffnete eine der Türen und ließ mir den Vortritt. Das Zimmer wirkte außergewöhnlich beruhigend auf mich. Es handelte sich also um keinen Verhörraum, denn die waren trist. Respekt einflößend. Bedrohlich. Hier hingegen war alles mit sanften Farben untermalt. Eine Stube für die „Guten“.
Nach der Aufnahme meiner Personalien bat mich der Kriminalpolizist um die Herausgabe der Chipkarte. Den Fotoapparat konnte ich behalten. Er steckte sie in ein Lesegerät am Computer und blätterte die Aufnahmen am Bildschirm durch. Insgesamt 23 Stück.
„Sind das alle, oder haben Sie welche gelöscht.“ Er sagte das in einem durchaus warnenden Ton. Nein, ich hatte nicht. Zuletzt auch darum, weil ich ganz genau wusste, dass ein Experte alles rekonstruieren konnte. Auch eine gelöschte Chipkarte. Trotzdem gefiel mir diese wie auch immer gemeinte Anspielung nicht.
„Wenn ich etwas fotografiert hätte, was Sie nicht sehen sollen, dann würde ich jetzt nicht mit diesem Chip hier vor Ihnen sitzen.“ Ich hoffte, dass er den Wink verstand und mich behandelte, wie es einem freiwilligen Zeugen gebührte. Er drehte den Monitor zu mir und bat mich, etwas über die einzelnen Bilder zu sagen. Ich benannte die darauf befindlichen Personen und beschrieb die ungefähre Situation, die herrschte, als sie entstanden. Erhard war besonders an jenen Personen interessiert, die schwach im Hintergrund zu erkennen waren. Manche Leute waren mir vertraut. Andere wiederum nicht. Und einige waren einfach nicht wirklich auszumachen. Dazu bedurfte es einer professionellen Nachbearbeitung. Nur eine erkannte ich auch ohne das Gesicht zu sehen. Fritz Wiesmayer. Doch ich erwähnte seinen Namen nicht. Fritz war ein alter Freund. Wahrscheinlich der Beste, den ich jemals hatte. Und ich bekam plötzlich eine Ahnung, warum er bei dieser Eröffnung anwesend war. Obwohl er mit dem Naturpark ansonsten rein gar nichts am Hut hatte. Es war mir schleierhaft, ihn nicht bewusst wahrgenommen zu haben. Trotz der vielen Leute, die an diesem Tag am Turm waren, hätte er mir doch auffallen müssen. Oder hatte er es darauf angelegt, gerade das zu vermeiden? Hatte er sich absichtlich im Hintergrund gehalten? Und war nur durch dieses zufällige Foto enttarnt worden? Ich versuchte, meine jähe Verunsicherung so gut es ging zu verbergen. Doch ich war mir sicher, dass sie der geschulte Polizist bemerken würde. Also bot ich eine Erklärung.
„Ich bin mir nicht sicher“, sagte ich und deutete auf ein völlig anderes Bild. „aber dieser Mann hier ist mir irgendwie aufgefallen. Ist ständig um den VIP-Tisch herumscharwenzelt. Auf Distanz natürlich.“ Ich ahnte, wer diese nicht genau auszunehmende Person war. Alois Berger, ein durchaus bekannter Querulant und Trunkenbold. Dem konnte ein Besuch der Kripo nicht schaden. Zudem entsprach meine Schilderung der Wahrheit. Je mehr ich es mir überlegte, desto mehr gefiel mir der Gedanke, dieses Tu-nicht-Gut in eventuelle Schwierigkeiten zu bringen. Dafür belastete mich eine andere Überlegung weiterhin. Welche Absichten hatte Fritz Wiesmayer gehabt? Ich würde ihn morgen aufsuchen, um diese Frage zu klären. Schon in seinem eigenen Interesse. Die Tür ging auf und Major Brettschneider trat ein. Ohne sich näher zu erklären, fragte er seinen Untergebenen nach meiner Person. So, als wäre ich gar nicht hier. Selbst Erhard schien diese Situation unangenehm zu sein. Ein kurzer Blick genügte mir um zu erkennen, wie sehr er Brettschneider und seine grobschlächtige Art, die er hier an den Tag legte, verachtete.
„Das ist Herr Wörner. Reporter von einem regionalen Wochenblatt. Er hat Fotos von Fuhrmanns letztem Auftritt gemacht. Und sie uns gebracht.“
Brettschneider zog einen Stuhl zu sich und nahm neben mir Platz. Nahe genug, um seine ekelhaften Ausdünstungen zu vernehmen. Mein erster Eindruck hatte mich nicht getäuscht. Aversion. Bis in Mark und Bein. Ich konnte verstehen, warum einige Delinquenten ein Geständnis unterschrieben, bloß um seiner Gegenwart zu entkommen. Mit tiefer Stimme wandte er sich an mich. Ich spürte, wie ich eine Gänsehaut aufzog.
„Ein kooperativer Journalist. Das ist selten.“ Die Kälte in ihm war beinahe niederschmetternd.
„Ich ziehe es vor, als Reporter bezeichnet zu werden. Berichterstatter. Meinetwegen auch als Schmierfink. Journalismus habe ich nicht studiert.“ Brettschneider zog die Augenbrauen hoch. Dann lachte er kurz. Ich konnte es nicht einschätzen, ob es verächtlich oder amüsiert gemeint war.
„Und noch dazu einer mit Humor“, fuhr er fort. Er würdigte die Bilder am Monitor keines Blickes. Damit sollte sich Erhard befassen. Er war nur auf mich fixiert und wartete auf irgendeine verräterische Regung. „Schildern Sie mir, wie diese Eröffnung abgelaufen ist. Wie sie Sie aus ihrem Blickfeld sahen. Und lassen Sie sich ruhig Zeit.“
Meine Zeit, die er sich nun großzügig nahm. Ich bereute es schon, hierher gekommen zu sein. Fuhrmanns Tischgesellschaft würde sich bestimmt nicht in diesem Gebäude einfinden müssen. Nein, die suchte man auf. So wie es Derrick immer getan hatte. In aller Höflichkeit die Münchener Villenviertel durchkämmend. Mit einem getreuen Wachhund an seiner Seite. Bloß mit dem Unterschied, dass Brettschneider einfach nicht Derricks Format hatte. Ich überlegte kurz und begann dann mit meinem Bericht. Brettschneider bedeutete seinen Adlatus mit einem kurzen Kopfnicken mitzuschreiben. Die Tastatur begann zu klimpern.
„Ich bin um etwa 18 Uhr mit meiner Frau Susan und meiner Tochter Julia beim Turm erschienen. Wir gehen gerne in den Naturpark und so haben wir beschlossen, die Arbeit mit dem Angenehmen zu verbinden. Meine Zeitung hat mich beauftragt, eine kleine Story von der Eröffnung des neu errichteten Aussichtsturms zu schreiben. Samt Fotos. Das hat nicht viel Zeit in Anspruch genommen und ich konnte mich die meiste Zeit mit meiner Familie beschäftigen. Wir haben also einen Tisch in der Nähe des Rednerpults aufgesucht und uns dort niedergelassen. Wenig später haben sich dann ein paar Bekannte zu uns gesellt. Ich habe für mich privat ein Foto davon gemacht. Die Namen habe ich Ihrem Kollegen genannt.“
Erhard nickte kurz. Brettschneider zeigte sich bei der Bezeichnung „Kollege“ sichtlich verschnupft, ritt aber nicht darauf rum. Er hätte sich damit auch nur lächerlich gemacht.
„Wir haben miteinander geplaudert und uns nicht weiter um die anderen Gäste gekümmert. Meine Frau ist, glaube ich, zweimal aufgestanden, um nach Julia zu sehen, die mit anderen Kindern am Spielen war.“ Brettschneider verzog unmerklich seine Miene. So genau wollte er es nun doch nicht wissen. „Gegen dreiviertel sieben ist dann der Landrat eingetroffen. Nationalrat Vanek und Viktoria Buntschuh waren in seiner Begleitung.“
Der Major hob die rechte Hand.
„Stopp. Diese Viktoria Buntschuh. Was wissen Sie über sie? Und damit meine ich eher das Gerede als die offensichtlichen Tatsachen.“ Er blickte mich verschwörerisch an. Ja, Reporter klatschten nun einmal gerne. Das schien zumindest seine Meinung zu sein.
„Nun ja. Frau Buntschuh ist eine sehr ansehnliche junge Dame. Um die dreißig etwa. Aber das weiß man ja nie so genau. Eine Vollblutblondine. Mit einigen weiteren durchaus greifbaren Reizen. So schien sie zumindest auf den Landrat gewirkt zu haben. Denn sie waren beide auffällig oft zusammen zu sehen. Und nicht immer nur in Verbindung mit dem Grenzlandspital, wo sie ja die Projektmanagerin ist. Von Landrats Gnaden, wenn Sie mich fragen.“
Ja, er fragte mich. Bedächtig nickte er in sich hinein. Diese Analyse schien andere Aussagen zu untermauern. Zufrieden brummend forderte er mich auf, im Text weiter zu gehen.
„Etwas später kamen dann Bürgermeister Schramm und sein Vize Walter Urbanek. Zusammen mit Karl Maurer, dem Chef von Maurer-Tech. Wann der andere Vizebürgermeister, Herr Reiber, eingetroffen ist, habe ich nicht mitbekommen. Aber sie haben sich alle an dem für sie reservierten Tisch zusammengefunden. Nach der üblichen Händeschüttelrunde hat dann Fuhrmann mit seiner Festrede begonnen. Und anschließend den Turm gemeinsam mit den anderen geladenen Gästen offiziell eröffnet. Das war noch vor zwanzig Uhr. Anschließend habe ich meine Runde und ein paar weitere Bilder gemacht. Von den Leuten, um etwas die Atmosphäre einzufangen. Und natürlich auch von Herrn Fuhrmann und den anderen an seinem Tisch. Gegen neun sind wir dann gegangen. Es sind zwar Ferien, aber die Kleine musste trotzdem ins Bett.“ Damit schloss ich meinen Bericht und sah Brettschneider fragend an. Der schien sich damit zufrieden zu geben.
„Sonst ist Ihnen nichts aufgefallen? Keine unbekannte Person, die dort nicht hingehörte? Keine verdächtigen Bewegungen?“ Ich schilderte nochmals kurz die Begebenheit um Alois Berger. Dann fiel mir doch noch etwas ein.
„Keiner von Fuhrmanns Tisch war mit seinem Ehepartner dort. Das ist irgendwie komisch. Gerade bei solchen eher ungezwungenen Anlässen.“
Brettschneider tat diese Bemerkung als unnütz ab. „Nun, der selige Landrat wird wohl kaum mit Frau und Freundin zusammen dort erscheinen.“
Nein, der nicht. Aber alle anderen hätten normalerweise ihre Frauen dabei gehabt. Dafür musste es einen Grund geben. Nun, vielleicht konnte mir der allwissende Max Hirscher auch darauf eine befriedigende Antwort liefern. Natürlich mit allerlei Kopfschütteln und mitleidigem Grinsen auf den Lippen.
Brettschneider stand unvermittelt auf und verließ abrupt den Raum. Zwischen Tür und Angel gab er seinem Untergebenen noch Anweisung, das Protokoll fertig zu machen. Ich war also entlassen. Welch großzügige Geste. Was war da schon ein Gruß zum Abschied dagegen? Aber wozu auch? Es hatte ja schon zur Begrüßung keinen gegeben. Ich unterzeichnete nach Durchsicht das Papier und ging mit Erhard gemeinsam den Flur entlang. An der Treppe verabschiedeten wir uns.
„Sie finden sicher alleine raus.“
Ja, das tat ich. Und ich hatte keinerlei Ambitionen, hier nochmals zu erscheinen. Meine Chipkarte hatte ich ihm gegen Quittung überlassen. Sie würde mir erst nach einem möglichen Aktenschluss wieder ausgehändigt werden.
Ich ließ den Polizeiposten hinter mir und fuhr geradewegs nach Hause. Es war schon nach halb sechs. Die Zeit war wie im Flug vergangen. Meine Frau hatte erst in anderthalb Stunden Schichtende. Ihr Tag war eine noch weitaus größere Entbehrung. Ich bog in die kleine Auffahrt zur Garage ein, öffnete händisch das Tor und stellte den Wagen darin ab. Ich freute mich auf Julia. Und auf die getreue Gerti. Auf unsere beiden Katzen. Und natürlich auf meine Susan, die hoffentlich bald heimkommen würde. Es war ein ereignisreicher Tag gewesen. Den galt es zu besprechen. In einem ansonsten recht ereignislosen Leben. Aber war das wirklich eine gerechte Beurteilung? Führte ich nicht eine geradezu beneidenswerte Existenz? Eine wundervolle Frau. Eine liebreizende kleine Tochter. Ein geborgenes Heim. Und ein paar treue Freunde. Was fehlte da noch zum Glück? Außer natürlich ein geheimnisvoller Mord, der meiner seligen Lethargie etwas Schwung verlieh. Aber auch Gefahren brachte, die ich noch gar nicht realisieren konnte. Gefahren, die mir den Atem gefrieren lassen würden.
*
Julia und Gerti saßen gerade am Küchentisch, als ich hereinkam.
„Na, Ihr beiden, warum versteckt Ihr Euch hier drinnen? Wo es draußen so wunderbar sommerlich ist?“ Julia sprang von der Eckbank und lief auf mich zu.
„Hallo Papa!“ Sie war wie üblich voller Tatendrang. Ihr schulterlanges, braunes Haar wirbelte umher. „Tante Gerti und ich haben Kekse gebacken!“ Sie umarmte mich an den Hüften und ich hob sie hoch.
„Kekse? Ist es dafür nicht noch zu früh?“ Julia kniff mich in die Nase und lachte. Sie war ein echter Sonnenschein. Mein Herz wurde ganz leicht, als ich sie mir so besah. In all ihrer kindlichen Unbekümmertheit. Weit weg von den Sorgen dieser Welt.
„Ach!“, kicherte sie los, „Kekse nur an Weihnachten sind doch langweilig. Jetzt ist es etwas Besonderes!“ Ich gab ihr einen Kuss an die Wange und setzte sie wieder ab. Dann ging ich zu Gerti und küsste sie an die Stirn.
„Danke, dass Du solange Geduld hattest.“ Sie sah mich mit großen Augen an.
„Geduld?“ Ihr Tonfall tadelte mich. „Wir hatten jede Menge Spaß zusammen.“ Ich nahm mir eines der Plätzchen vom Teller.
„Wirklich gut!“ Ich war ein echter Süßwarentiger. „Ich mache jetzt den Grill im Garten an. Steak oder Würstchen?“ Julia tat ihre Entscheidung lauthals kund. Gerti hingegen stand auf.
„Ich wollte heute eigentlich mein Unkraut jäten. Und das werde ich jetzt in Angriff nehmen.“ Sie verabschiedete sich sehr herzlich von Julia und ich begleitete sie zur Tür. Bevor ich etwas sagen konnte, sprach sie mich an.
„Ich habe heute nicht ganz uneigennützig Kekse gebacken. Ich wollte den Fernseher im Auge behalten. Und die Berichterstattung über Fuhrmanns Tod. Das hat dich doch heute so früh aus dem Haus getrieben?“ Ich nickte ein paar Mal kaum merklich mit dem Kopf.
„Ja, eine schreckliche Geschichte.“ Wieder fiel sie mir ins Wort.
„Mord an sich ist immer schrecklich. Aber bei Landrat Fuhrmann spüre ich keinerlei Bedauern. Ganz im Gegenteil. Ich habe sechzig Jahre alt werden müssen, um das zu sagen.“ Sie blickte etwas beschämt zu Boden. Einen Moment lang kam es mir so vor, als rang sie mit sich selbst. Dann hob sie ihr Haupt wieder, richtete ihre runde Hornbrille etwas zu recht und sprach weiter. „Bevor Fuhrmann das Gesundheitswesen in der Landesregierung übernommen hat, war er Bildungsbeauftragter. Und da er von hier stammte, hat er sich auch besonders um die Schulen im Bezirk gekümmert.“ Sie atmete tief durch und starrte auf irgendeinen imaginären Punkt in der Ferne. „Aber das ist lange her. Guten Abend, Michi. Melde dich, wenn wieder Not am Mann ist.“ Sie drehte sich um und ging zur Gartentür. Ich konnte ihr nur noch eine etwas erstickte Erwiderung zurufen, dann war sie verschwunden.
*
Das Fleisch brutzelte bereits wohl duftend vor sich hin, als sich Susan zu mir setzte. Die kurze Dusche hatte die Strapazen des Tages beinahe weggefegt. Ich blickte ihr kurz in die Augen und küsste sie dann nochmals liebevoll auf ihren zarten Mund, während ich durch ihr seidenes, glattes, schulterblattlanges, rotbraunes Haar fuhr. Susan war meine erste große Liebe gewesen. Über zwanzig Jahre war das nun her. Und ich liebte sie stärker denn je. Susan war eine sehr starke Frau, geprägt von der Arbeit, die sie zu verrichten hatte. Ich hatte keine Ahnung, wo ich ohne ihr stehen würde. Ohne ihre Liebe, ihren Zuspruch. Susan war der Anker, der mich im Hafen hielt. Susan war das einzige, worum mich Markus Hirscher beneidete. Und Susan war das einzige, was er definitiv niemals bekommen würde. Denn Susan verabscheute ihn. Aus tiefstem Herzen. Ich hatte oft mit ihr über ihn gesprochen. Ihn in ein besseres Licht gestellt, als er es verdiente. Doch sie war unerbittlich geblieben. Und sie kannte die Menschen. Schließlich musste sie sich tagtäglich mit ihnen auseinandersetzen. Mit ihren echten und vorgetäuschten Leiden. Mit ihren Ängsten, ihren Phobien. Mit ihrer Gutmütigkeit ebenso wie mit ihrer ganzen Verderbtheit und Bösartigkeit. Ich bewunderte die Robustheit ihres Charakters. Persönlich hätte ich bei einer derartigen Arbeit schon lange resigniert. Oder ich wäre zum Mörder geworden. Echte Krankenschwestern jedoch waren aus einem anderen Holz geschnitzt. Fernab jeglicher Mimosenhaftigkeit. Aber auch fernab rührseliger Sentimentalitäten, die dieses Berufsbild verklärten.
Ich schenkte ihr ein Glas von unserem sizilianischen Lieblingsrotwein ein.
„Na, jetzt rede schon.“
Ich sah etwas gehemmt auf Julia, die mit Eifer ihr Würstchen bearbeitete. Doch Susan winkte bloß ab. Ja, sie war alt genug.
„Du wirst es ja eh schon in allen Details erfahren haben“, begann ich meinen Bericht. Doch da ich wusste, dass sie die Geschichte aus meinem eigenen Mund hören wollte, schilderte ich ihr den Sachverhalt so, wie er sich mir darstellte. Als ich endete, war auch das Essen fast verzehrt. Nur das Dessert stand noch abholbereit drinnen im Kühlschrank. Selbst gemachtes Tiramisu von gestern Mittag. Als Landrat Ernst Fuhrmann noch am Leben war. Susan legte ihr Besteck ab und begann zu reden.
„In der Arbeit haben heute viele über ihn geredet. Und nur Wenige mit Anteilnahme.“ Bevor ich darauf eingehen konnte, sprach sie auch schon weiter. „Ich kann nichts gegen ihn sagen. Er hat uns einmal pro Jahr aufgesucht und da war er immer sehr freundlich.“ Sie schaute mich mit einem herausfordernden Blick an. Ich würde nicht darauf einsteigen. Wir beide wussten, warum das so war. Und alle anderen wohl auch. Da ich nicht antwortete, fragte sie mich nach meiner persönlichen Ansicht.
„Nun“, begann ich räuspernd, „die Sache ist womöglich schwieriger, als sich die Polizei das über kurz oder lang eingestehen wird.“ Ich hatte Susans Interesse geweckt. Immerhin waren wir beide fanatische Krimifans. Marple, Poirot, Holmes. Das waren unsere Helden. „Die Polizei tippt auf einen Profi, was auf Tschechen hindeuten kann.“ Susan nickte auffordernd. „Max Hirscher hat hingegen eine ganz andere Theorie.“ Ich bemerkte sofort, wie sich Susans Miene verfinsterte. Ich erklärte ihr seinen Standpunkt, ohne auf seinen Einbruchsvorschlag näher einzugehen. Spätestens dann wäre das Thema ohnehin erledigt gewesen.
„Er bietet dir die Zusammenarbeit an?“ Meine Frau lachte verächtlich. „Der will etwas von dir! Der benutzt dich doch nur! Spiel da ja nicht mit!“, schloss sie warnend.
Ja, er wollte etwas von mir. Ja, er benutzte mich. Aber trotzdem. Ich setzte mich etwas im Stuhl auf.
„Ich weiß das alles, Susan. Und ich weiß auch, dass du Recht hast. Aber ich hab’s satt. Ich werde ständig untergebuttert. Alleine bei meiner Zeitung. Diesem Schmierblatt.“ Ich konnte mir diesen Verweis nicht mehr ersparen. Susan sah mich tadelnd an. Ja, auch dieses Schmierblatt ernährte uns. Wenn auch nicht sehr üppig. „Hollaus war Handelsschüler. Und ist jetzt mein Chef. Ich bin lange genug verarscht worden. Und das ist meine Chance.“ Ich achtete darauf, dass mich Julia, die bereits wieder am Spielen war, nicht hören konnte. Ich senkte meine Stimme noch weiter. „Da ist was faul mit Vanek. Und vielleicht auch mit all den anderen Kreaturen, die sich gestern Abend haben beweihräuchern lassen. Und ich will dabei sein, wenn sich der Schleier hebt.“
Susan besah mich eindringlich.
„Die Tschechen sind plausibel und das weißt du auch. Alleine schon wegen dem Grenzspital. Und der Tötungsart. Pass bloß auf!“
„Bei den Fotos, die ich am Posten abgegeben habe, war auch eine Person darauf, die mich sehr beunruhigt: Fritz Wiesmayer“ Susans Gesicht wurde besorgt. Mit einem Mal war die tschechische Baumafia weit entfernt.
„Fritz? Du weißt, was das bedeutet?“ Sie nahm einen Schluck Wein. „Fritz ist Dein bester Freund. Und damit auch meiner.“ Wütend blies sie ihren Atem durch die Nase. „Diese verdammte Helga! Diese verdammte ...“
Leiser werdend brach sie ab. Wir wussten beide Bescheid. Wiesmayers Frau Helga war ein weiblicher Don Juan. Andere hätten sie als Hure bezeichnet. Aber was war dann das männliche Pendant? Fest stand, Helga hatte eine Affäre mit Fuhrmann.
„Ich werde mir Fritz morgen nach der Redaktionssitzung vornehmen. Als Gemeindearbeiter ist er ja leicht verfügbar.“ Dann begab ich mich auf unsicheres Terrain. Gerti Wallner war so etwas wie eine Heilige für meine Frau. Mit Abstrichen auch für mich. Trotzdem wollte ich diese Andeutung an der Haustür verstehen. Und ich war mir sicher, dass Susan mir eine Antwort liefern konnte.
„Was hatte unsere Gerti mit Fuhrmann zu schaffen?“ Meine Frage kam gerade heraus. Fast aggressiv. Susan schaltete blitzschnell. Zuerst erbost, später fast milde. Und am Schluss eher traurig.
„Gerti hat als Volksschuldirektorin den Spagat zwischen Lehrern, Kindern und Eltern stets hingekriegt. Ohne viel Getöse, ohne viel Aufsehens zu machen. Heute ist das nicht mehr gefragt. Heute gibt es Psychologen, Arbeitsgruppen und jede Menge unnütze neue Betätigungsfelder für pädagogische Scharlatane.“ Ich konnte den Unmut in ihrer Stimme kaum von mir fernhalten. Susan sprach weiter. „Fuhrmann hat die Alten weg haben wollen. Damit ist es wohl am besten beschrieben. Nicht zuletzt deshalb, weil eine seiner beiden Töchter zu Gertis Zeiten Pädagogik studierte. Um es kurz zu machen. Er hat sie ausgebootet. In Frühpension wegen angeblicher Konzentrationsschwäche geschickt. Und so den Weg seiner eigenen Frucht geebnet. Schließlich wohnt seine Tochter nur ein paar Meter von der Schule entfernt.“ Susan schloss ihre Worte und senkte ihre Lider. Im Geiste schien sie nochmals dieses Politikum durchzugehen. Ich lachte leise vor mich hin. Ohne es in irgendeiner Weise offen zu zeigen. Es war vielmehr die Reaktion auf eine Bestätigung, die ich schon so oft empfunden hatte. Ich schenkte meiner Frau noch etwas Rotwein nach.