LESEPROBE
1
Die
Vergangenheit war eine Prophezeiung dessen, was kommen sollte. Wäre ich ein
Poet gewesen, hätte ich es eleganter auszudrücken vermocht. Doch ich war kein
Poet. Nur eine dunkel gekleidete Gestalt, die dem Herbstwind trotzte. Ich
suchte in der Deckung einer kurzen Plakatwand Schutz und steckte mir eine Camel
an. Leichter Regen setzte ein. Irgendwo hinter den grauen Wolken stand die
Sonne am Firmament. Verdeckt vom Schleier irdener Gewalten. Ich ging weiter.
Ließ die glimmende Zigarette aus dem Mundwinkel baumeln. Ein Wohnblock reihte
sich an den anderen. 30 Stockwerke hoch. An der Basis sehr breit, verjüngten
sich die Türme mit zunehmender Höhe. Ähnlich einer Skateboard Rampe. Die unteren
Geschosse waren mit Balkongärten versehen, deren Eigentümer wuchtige Kistenpflanzen
als Sichtschutz verwendeten. Mich störten diese individuellen Abweichungen von
Farbe und Symmetrie. Brachten Chaos in die Wahrnehmung einer ansonsten weißen
Wand mit schmalen Fensterbändern und dunklen Einbuchtungen. Zerkratzten das
Bild der Perfektion. Es war später Nachmittag und immer mehr Menschen zogen
eiligen Schrittes an mir vorüber. Kinder von der Ganztagsschule, die zurück zu
ihren Eltern kehrten. Männer in schwarzen Mänteln oder verschmutzter
Arbeitskleidung. Frauen im schicken Kostüm oder in legeren Jeans. Der Strom aus
der nahe gelegenen Untergrundbahnstation riss nicht ab und ich verlangsamte
weiter mein Tempo. Sah in diese Gesichter, die vor Schmerz verzerrt, vor
Hoffnung gespannt oder vor Gleichgültigkeit zerstört waren. Ich ließ die Kippe
fallen, zertrat sie und zündete eine neue Zigarette an. Inhalierte den Rauch
und dachte zurück an Charkiw, wo ich in einer vergleichbar großen Wohnsiedlung
wie dieser aufgewachsen war. Natürlich in einer nicht vergleichbaren
Infrastruktur. Und doch waren die Menschen dieselben geblieben. Bloß steckten
sie in anderen Körpern. Hatten andere Geschichten zu erzählen, andere
Biographien, vielleicht auch andere Ideologien im Kopf. Ich begab mich zu einem
der zahllosen Eingangsportale, die mit braunen Säulen flankiert wurden und ein
wenig an Periskope erinnerten. Dort stieg ich die grauen, mit Handläufen
gesäumten Stufen zum Foyer hoch. Ich setzte mich in eines der harten Kunstledersofas
und wartete darauf, dass der Feierabendansturm langsam abklang. Obwohl ich mein
ganzes Leben lang immer wieder inmitten großer Menschenansammlungen gestanden
hatte, fühlte ich mich stets besser, wenn ich alleine war. Niemand rings um
mich herum war, dessen Geruch ich vernehmen oder dessen Stimme ich ertragen
musste. Auf der Wand direkt vor mir war ein raumhohes Gemälde von Alfred
Hrdlicka angebracht, das ich bei jeder sich bietenden Gelegenheit intensiv
studierte. Eigentlich hatte ich von darstellender Kunst wenig Ahnung, da ich
mich mehr für Literatur interessierte, doch nach und nach hatte ich mir dieses
Werk erschlossen. Erkannte das Leid, die Angst, den Schmerz und auch die
Bedrohung, die in den blassen Gesichtern der dort hingemalten Leute standen.
Und je intensiver ich diese Szenerie betrachtete, desto mehr Ähnlichkeit
erkannte ich zu jenen Menschen, denen ich gerade erst begegnet war. Wenn auch
in einem völlig anderen Kontext. Hrdlickas Figuren ächzten unter dem Joch der Unterdrückung,
jene in meinem Kopf unter dem Stiefel des Mammons. Beides hatte seinen
ureigenen Schrecken. Nach zwei weiteren Zigaretten erhob ich mich schließlich,
begab mich zu einem der Lifte und fuhr alleine in der Kabine hoch in den 18.
Stock. Dort schloss ich die Tür zu meiner kleinen Wohnung auf, streifte die
Schuhe ab und holte aus dem Kühlschrank eine Flasche Bier. Als ich mit dem
Getränk in der Hand raus in die Loggia ging und runter blickte auf all die
Ameisen, die über die Gehsteige krochen, machte ich einen tüchtigen Zug. Und
mir kam wieder der Tag in den Sinn, als ich mit 16 zum ersten Mal einen
Menschen getötet hatte.
Rückblende
Was
mochten das für Bäume sein, die da draußen in Reih und Glied angeordnet
standen? Schief wie Betrunkene und doch standfest wie die Zinnsoldaten. Keinerlei
Äste griffen aus ihren Flanken. Bloß in den Himmel ragende Wassertriebe. Es
musste Wochenende gewesen sein. Denn Vater und Mutter waren am späten Vormittag
in unserer kleinen Wohnung anwesend. Und ich nicht im Kindergarten. Ich
betrachtete diese Bäume vom Rand des in Wellblech gefassten Balkons weiter,
während jenseits der Erkertür Glas in Bruch zu gehen schien. Wie seltsam die
Natur doch war, die solch Gewächse in dieser Betonwüste überleben ließ. Die
auch mich erschaffen hatte, um mir vor Augen zu führen, wozu sie imstande war.
Und wozu die Geschöpfe imstande waren, die sie hervorgebracht hatte. Ich
blickte nach vor, nach oben, nach unten. Nach links und nach rechts. Überall
glatte, helle Fassaden, die von knapp bemessenen Ausbuchtungen und Vorsprüngen
kurz aus dem Tritt gebracht wurden, ehe sie wieder in der Ganzheit der Monotonie
ineinander verschmolzen. Bloß jene, mit dunkler Rinde überzogene Bäume,
brachten Verwirrung in dieses Bild. Und die Schreie, die langsam von drinnen zu
meinen Ohren drangen. Das war meine erste Erinnerung an das Leben, in das man
mich hineingeboren hatte.
2
Ich
schloss die Duschkammer und drehte das Wasser eiskalt auf. Einen Moment lang
schüttelte es mich durch, dann entspannte sich mein Körper und ich kam wieder
zu Sinnen. Wer in der Roten Armee und später in der Legion gedient hatte, war
an Abhärtung gewöhnt. Nach der Morgentoilette zog ich mich an und machte
Frühstück, während im Radio die 6. Sinfonie von Jean Sibelius zu hören war.
Rhythmische Wehmut, unterbrochen von eruptiven Bläserklängen. Mir gefiel die
Interpretation von Leonard Bernstein besser, aber schließlich befand ich mich
in Österreich und so spielte der Sender eine Aufnahme der Wiener Philharmoniker
unter der Leitung von Lorin Maazel. Das Weißbrot schnalzte aus dem Toaster und
ich begab mich zur kleinen Sitznische in der Küche, wo eine Flasche Milch,
etwas Schinken und eine Schale Müsli bereits auf mich warteten. Die Agentur
hatte mich Punkt 12 einbestellt. Ein neuer Auftrag, wie es geheimnisvoll hieß.
Bis dahin war Zeit, noch etwas ins Fitnessstudio zu gehen. Nicht aus
übertriebenen Ehrgeiz. Nicht aus Fitness- oder gar Gesundheitswahn. All das war
mir fremd. Nein, aber mein Körper war meine Einkommensquelle, meine
Existenzsicherung. Und beiderlei Hinsicht. Und darum musste ich ihn vor allzu
schnellem Verfall bewahren. Den Raubbau an ihm in Grenzen halten. Was mir mit
den Jahren zusehends schwerer fiel. Zumal ich bereits in meiner Jugend all
meine inneren Ressourcen aufgebraucht hatte. Und jetzt nur noch auf Reserve
lief. Bis auch diese sich verflüchtigte und mein Los besiegelte. Ehe es soweit
war, wollte ich mich aber nicht kampflos ergeben. Darum konnte ich nur immer
weiter machen. Egal wohin mich das Schicksal auch führte. Jeder Kreatur auf
diesem Erdenball war das beschieden. Wenngleich sich deren Wege stark
unterschieden. Ich räumte das Geschirr vom Tisch und begab mich ins Wohnzimmer.
Dorthin, wo ich am Vortag meine Gedanken vergessen hatte. Sie ertränkte. Ich
griff mir das nächstbeste Buch und schlug es auf. Irgendwo in der Mitte.
Ulysses von Joyce. Ich hatte es nie geschafft, es zusammenhängend fertig zu
lesen. Dazu hatte es mir ebenso an Ausdauer, wie auch an Intellekt gefehlt.
Vielleicht aber auch nur an der Begabung leiden zu wollen. „Lehm, braun und
feucht, begann in der Grube sichtbar zu werden“, stand da. „Stieg an, stieg auf
und die Totengräber ließen die Spaten ruhen.“ Ich entsann mich jener Stelle in
diesem extravaganten Buch. Die Beerdigung von Paddy Dignam. In dem Moment
verschwanden die wirren Worte des irischen Schriftstellers und wurden durch ein
Bild ersetzt, welches sich bis ins tiefste meines Gedächtnisses hineingebrannt
hatte. Der aufgebahrte Leichnam meines Vaters. Und mein hämisches Grinsen,
welches ich damals in einer reflektierten Glasscheibe erkannte.
Rückblende
Ich
mochte den Kindergarten, der dem Betrieb angeschlossen war, in dem meine Eltern
arbeiteten. Wir erfuhren dort viel Zuwendung. Das begann schon, als mich Mutter
morgens früh dort abgab. Wir wurden in nach Alter aufgeteilten Gruppen betreut.
Machten Morgengymnastik mit Musik, bekamen ein warmes Frühstück und durften
unter fürsorglicher Aufsicht spielen. Wenn Schnee lag, gingen wir zum Schlittenfahren
und im Sommer zur Naturbeobachtung im nahe gelegenen Park. Mittags gab es ein
dreigängiges Essen und nach der zweistündigen Ruhezeit in den Kojen
beschäftigten sich unsere Erzieherinnen wieder mit uns. Bis wir früh abends von
den Eltern wieder geholt wurden. In meinem Fall von meiner Mutter, die noch
kurz mit den Aufsichtspersonen sprach, ehe wir uns zur Bushaltestelle und
zurück in die Wohnung begaben. Gewöhnlich redeten wir dabei kaum ein Wort.
Mutter quetschte meine Bastelarbeiten in einen Stoffbeutel, den sie dann in
einem Mülleimer vorm Haus entleerte und ich sah hoch in die vom künstlichen
Licht zerfurchte Dunkelheit.
3
„Ein
saudischer Prinz kommt übermorgen hierher“, eröffnete der Chef der
Sicherheitsagentur das Meeting. Ich hatte schon öfters mit arabischen Adeligen
zu tun gehabt und dabei vor allem ihr großzügiges Trinkgeld immer sehr
geschätzt. Was über ihr Benehmen stets hinwegtäuschen konnte. Darum wäre ich
nicht abgeneigt gewesen, dort zugeteilt zu werden. „Er hat natürlich seine
eigenen Leute mit“, setzte Horst Marek fort. „Aber sie brauchen noch zwei Leute
mit Ortskenntnissen.“ Da es sich nicht um einen offiziellen Besuch, sondern
augenscheinlich um einen ausgedehnten Einkaufsbummel handelte, wurden nicht öffentliche
Stellen bemüht, sondern ein privater Dienst. Und Marek war die Nummer eins in
Wien. Ich hoffte, diesen Job zu bekommen, doch der Boss, der ebenso wie ich
eine Spezialausbildung in Israel gemacht hatte, überreichte zwei anderen
Kollegen die Kuverts mit den entsprechenden Instruktionen. Ich griff nach dem
vor mir stehenden Pappbecher und trank einen kleinen Schluck Automatenkaffee.
Niemand wurde hier in die Zentrale herbestellt, ohne dass es auch einen Grund
dafür gab. Also blieb ich gelassen. Denn Kündigungen sprach der Chef nur unter
vier Augen in seinem eigenen Büro aus. Und dazu sah ich bezüglich meiner Person
keinerlei Veranlassung. Oder doch? Ich ging im Geiste die letzten Aufträge kurz
durch. Gewiss. Bei der Generalversammlung eines großen Energieversorgers hatte ich
zwei renitente Kleinaktionäre etwas unsanft aus dem Saal befördert und ihnen
zum Abschied noch einige tüchtige Ohrfeigen mit auf den Heimweg gegeben, aber
das gehörte mit zum Geschäft. Zumal ich mir sicher war, dass niemand heimlich
mit einem gezückten Smartphone mitgefilmt hatte. Dennoch war ich beunruhigt,
als mich Marek nun direkt ansprach.
„Volkov“,
sagte er durchaus scharf und nahm mich mit seinen Habichtsaugen ins Visier. Er
hatte einst bei einer Spezialeinheit der Polizei gedient, war aber nach einem
bis heute strittigen Vorfall mit einem Festgenommenen vom Dienst suspendiert
worden, ehe er sich diese Agentur hier aufbaute. Ich nickte kaum merklich. „Was
sagt dir der Name Anja Pescher?“, wollte er ohne Umschweife wissen. Daher wehte
also der Wind. Ich überlegte kurz.
„Moderiert
beim Fernsehen irgendein Politmagazin“, antwortete ich kurz. Beim Militär
lernte man, niemals zu viel zu sagen als unbedingt nötig. Jetzt war es mein
Arbeitgeber, der nickte.
„Was
hältst du von ihr?“, hakte er nach. Ich lachte ganz kurz verächtlich auf.
„Weiß
alles besser und glaubt, die Welt mit ihren Illusionen bekehren zu können.
Ziemlich einseitig in ihrem Denken.“ So wie alle Journalisten, folgerte ich
wortlos weiter. Marek warf mir einen großen, weißen Umschlag zu.
„Dann
bist du genau der Richtige. Sie hat Morddrohungen bekommen, die Polizei sieht
aber keinen dauerhaften Handlungsbedarf.“ Ich überlegte.
„Soll
das heißen, ich muss mich rund um die Uhr um diese Tussi kümmern?“ Der Chef
freute sich förmlich über die Aversion, die in meiner Stimme lag.
„Genau
das werden Hausberger und du tun!“ Er hatte den Kollegen, mit dem ich mich
ablösen sollte, also bereits in Kenntnis gesetzt.
„Für
wie lange?“ Marek zuckte mit den Schultern.
„Wenn
es sein muss bis zum Sankt Nimmerleinstag. Sie zahlt gut und es wird kein allzu
anstrengender Job für euch werden. Haltet die Augen auf. Vermutlich irgendein
Spinner, der sich mit der Guten einen Scherz erlaubt. Dennoch tun wir so, als
nähmen wir die Sache ernst. Das ist unser Beruf. In zwei Wochen werdet ihr von
einem anderen Team abgelöst. Es sei denn, sie überlegt es sich bis dahin.“ Der
Boss sagte das in einem süffisanten Ton, der darauf anspielte, dass sie
womöglich der Gesellschaft von Hausberger oder mir selbst bald überdrüssig
werden könnte. Allgemeines Gelächter, meines ausgenommen, war die Folge. Ich
erhob mich, ohne das Ende des Meetings abzuwarten und nahm im Magazin meine
Dienstwaffe in Empfang. Sie zu tragen, diente eher der Abschreckung, da man im
privaten Begleitschutz nur sehr eingeschränkte rechtliche Befugnisse hatte. Was
mich an diesem Auftrag störte war nicht die Tatsache, zwei Wochen lang zwölf
Stunden täglich eingespannt zu sein. Da hatte ich schon wesentlich ungünstigere
Arbeitszeiten erlebt. Nein. Mich störte, dass ich in Diensten einer Person
stand, die ich zutiefst verabscheute.
Rückblende
Als
ich in die Grundschule kam, änderte sich einiges in meinem Leben. Ich lernte
Schreiben, Lesen und Rechnen. Und mein Vater verlor jegliche Hemmungen. Hatte
er sich aus Angst vor den regelmäßigen ärztlichen Begutachtungen im
Kindergarten noch zurückgehalten, so ließ er nun seine ganze Wut auf diese Welt
an mir aus. Spätestens nach der ersten Flasche Wodka geriet er derart in Rage,
dass es keiner Schilderung bedurfte, was er dann mit mir anstellte, während
Mutter mit leeren Augen das Geschirr spülte. Wenn er sich an mir verging, hatte
zumindest sie ihre Ruhe. So war ihr Selbstschutz aufgebaut. Während andere
Familien ihren kostenlosen Anspruch auf ein kleines Grundstück für eine Datscha
geltend machten, um dort Gemüse anzubauen und etwas Glück zu erleben, vertrank
mein Vater seinen Verstand ebenso schnell wie das Geld, das man ihm auszahlte.
Und meine Mutter sah ohnmächtig zu. Leistete dem sogar Vorschub. Warum auch
immer.
4
Die
TV-Station hatte ihre eigenen Sicherheitsleute und so übernahm ich Anja
Pescher, wenn man das so nennen wollte, erst am Angestelltenausgang. In den
vorangegangenen Tagen hatte sie sich stets umgezogen, bevor sie zu mir ins
Fahrzeug stieg, doch dieses Mal kam sie mit ihrer Moderatorenkleidung heraus.
Sie trug ein weißes, knielanges Kleid, schwarze Nylonstrümpfe und hochhackige
Schuhe in gleicher Farbe. Nachdem ich einen kurzen, aber intensiven Blick an
ihr haften ließ, hielt ich ihr mit einem kurzen Gruß die Hintertür auf und
klemmte mich anschließend hinters Lenkrad. Sie hatte ein Appartement direkt in
der Innenstadt und da dort weitgehendes Fahrverbot für private Fahrzeuge bestand,
musste bis hin zu ihrer Wohnung ein größeres Stück, etwa zweihundert Meter,
öffentlicher Raum überwunden werden, wie man das im Fachjargon nannte. Doch als
ich einen günstigen Parkplatz in einer Seitengasse gefunden hatte, machte sie
keine Anstalten das Auto zu verlassen.
„Ihr
Kollege redet wie ein Wasserfall. Erfragt praktisch meine ganze
Lebensgeschichte. Sie hingegen sind stumm wie ein Fisch.“ Sie strich dabei
lasziv durch ihr blondes, schulterblattlanges, glattes Haar.
“Wir
sind da“, antwortete ich professionell und machte mich daran auszusteigen, um
ihr die hintere Fahrzeugtür zum Aussteigen zu öffnen. Auch das gehörte zu
unserem Service.
„Seien
Sie nicht so langweilig“, unterbrach sie mich stattdessen und wies mich an, mit
ihr eine nahe gelegene Diskothek aufzusuchen, die nach einer Stadt in Tennessee
benannt war. Da es keine akute Bedrohungslage in diesem Fall gab und ich daher
keine Verstärkung brauchte, kam ich diesem Wunsch sofort nach. Ganz nach
Vorschrift der Agentur. Wenngleich es für mich und meinen Auftrag leichter
gewesen wäre, eine Wohnung zu observieren, als mit einer prominenten
Schutzperson eine öffentliche Lokalität aufzusuchen, der noch dazu sehr gut
besucht war. Wir nahmen in einer der knappen Nischen im Untergeschoss Platz. Dort
sah ich ihr erstmals in die Augen. Zuvor hatte ich mich ausschließlich auf das
fixiert, was sie umgab. Und während Depeche Mode musikalisch der Stille
huldigte, spürte ich erstmals die Einsamkeit in ihr. Meine eigene war bereits
vor Jahrzehnten vom Meer der Ignoranz weggespült worden. Zwar läutete ihr Handy
andauernd und ständig huschten irgendwelche Leute an ihr vorbei, die sie mit
Küsschen überbordeten. Dauerhaft sitzen blieb jedoch nur ich. Der Mann mit der
Knarre im Halfter. Was für eine unromantische Vorstellung für eine Frau. Sie
tanzte einige Male mit Leuten, die ich nicht kannte, ließ sich Komplimente
geben und nachdem sie fünf oder sechs Gläser Sekt getrunken hatte, den man hier
ganz ungeniert als Champagner verkaufte, wandte sie sich direkt an mich, der
bislang im knappen Abseits gesessen hatte.
„Was
glauben Sie was los ist, wenn ich in einen normalen Club gehe und dort etwas
trinken will?“, fragte sie mich. Mir war klar, dass in dieser Disco nur
ausgewähltes Publikum Zutritt hatte. Ein normal Sterblicher brauchte sich erst
gar nicht beim Türsteher zu bemühen. Also stellte ich ihr eine Gegenfrage.
„Sie
meinen also einen Club, in dem sich Leute wie ich befinden?“ Ich sagte das in
einem völlig wertfreien Ton. Anja überlegte kurz. Dann nickte sie.
„Ja,
so wie Ihrer eins ausgeht.“ War das Naivität oder gezielte Provokation? Ich
schluckte kurz und lächelte sie dann eisern an, ohne darauf etwas zu erwidern.
Es dauerte vielleicht zehn, womöglich auch zwanzig Sekunden, in denen wir uns
nur neutral ansahen. Dann begann sie plötzlich lauthals zu lachen.
„Entschuldigen
Sie“, sagte sie nach wie vor sehr erheitert. „Aber das musste ich einfach
wissen.“ Ich hatte verstanden. Sie wollte mich nur auf die Probe stellen. Und
doch hatte sie eine Grenze überschritten. Ich hatte einen ganz einfachen
Grundsatz. Jeder Kunde, der mich als Mensch respektierte, bekam meinen Respekt,
meine Freundlichkeit und meinen Schutz zurück. Alle anderen, die das nicht
taten, mussten auf den Respekt verzichten. Der Rest war vertraglich geregelt.
Rückblende
Mein
Vater hieß Evgeniy Volkov, meine Mutter Teresa. Welch Ironie. Mir wurde, als
ich am 28. Februar 1970 in Charkiw geboren wurde, der Name Mikhail gegeben. Wenn
Vater zu viel getrunken hatte, was sehr oft vorkam, bekam er meistens früh
morgens gerade so noch die Kurve und stand auf, um pünktlich bei der Arbeit im
Traktorenwerk zu erscheinen. Was er dort tat, wusste ich nicht. Auch nicht,
womit sich meine Mutter den ganzen Tag über beschäftigte, die im gleichen
Betrieb Geld verdiente. Mitunter kam es aber auch vor, dass Evgeniy Volkov alle
Viere grade ließ und im Bett liegen blieb. Ohne Bescheinigung eines Arztes. Was
zur Folge hatte, dass die Miliz im Laufe des Tages an unserer Wohnungstür
klopfte und den säumigen Arbeiter zurück an seine Wirkungsstätte verfrachtete. Da
war ich aber zumeist in der Schule und kriegte nichts von diesen Vorgängen mit.
Nur abends, wenn Mutter schamvoll darüber flüsterte, dass der Name ihres
Ehemannes Mal wieder am Schwarzen Brett wegen einer Verfehlung angeschlagen
worden war. Dass er mich einmal pro Woche halb tot prügelte, störte sie dabei weniger.
5
In
meinem ersten Jahr bei der Armee der UdSSR hatten mich die Großväter gelehrt,
auf Schlaf zu verzichten. Meist, um ihren Schikanen freien Lauf zu lassen. Und
so war es mir in Fleisch und Blut übergegangen, oftmals mit zwei oder drei
Stunden nächtlicher Ruhe auszukommen. Ich setzte mich in meinen freien Nächten mitunter
in ein Auto, dass ich kurz zuvor gestohlen hatte, tauschte die regulären
Nummernschilder durch andere aus und parkte mich in die Seitengasse irgendeiner
Diskothek oder eines Clubs am Stadtrand. Wenn die Luft rein war und die
Anwesenheit eines konzessionierten Taxifahrers auszuschließen war, stellte ich
mein beleuchtetes Schild aufs Dach und spielte Chauffeur. Es machte mir Spaß,
betrunkenen Jugendlichen ihre kurze, bedeutungslose Lebensgeschichte
abzufragen. Weil es mich immer daran erinnerte, dass auch mein Leben damals
kurz und bedeutungslos war. Bloß dem Zwecke bestimmt zu überleben. Wenn auch
unter anderen Voraussetzungen. Doch ich verurteilte diese jungen Leute nicht
dafür. Welchen Sinn hätte es auch gehabt? Nur die Großväter wollten, dass man
dasselbe erlitt wie sie selbst. Die Großväter, die mich nicht losließen. Selbst
dann nicht, als ich einer von ihnen wurde. Eines Nachts stieg jedoch ein Junge
bei mir ein, der anders war als alle, die ich bisher gefahren hatte. Er war
nüchtern, eloquent und schon nach wenigen Minuten des Gesprächs begann ich ihn
zu hassen. Wäre er in seiner nach außen hin getragenen Überheblichkeit auch noch
beleidigend geworden, hätte ich ihn als das abtun können, was ich seit jeher
verachtete. Aber dieser Typ passte in kein Bild, in kein vorgefertigtes Schema.
Er überrollte mich, je länger wir sprachen. Und als ich am Praterstern meinen
Fuhrlohn verlangte, hechtete ich vielleicht eine Sekunde später auf die
Rückbank und tötete ihn so, wie man es mir ein Leben lang beigebracht hatte.
Ohne die geringste innerliche Regung zu verspüren.
Rückblende
Ich
bekam den Roten Stern Lenins verliehen und wurde in den Kreis der Oktoberkinder
aufgenommen. Bei derlei Ereignissen war es üblich, die ganze Familie
einzubinden. Alle kamen zusammen und freuten sich. Aßen, tranken und ließen es
sich gut gehen. In meinem Fall hingegen war nur Mutter dabei. Mit einem
überschminkten blauen Auge. Dem anwesenden Parteiorgan log sie auf Nachfrage
etwas von einer Unpässlichkeit ihres Mannes vor und ohne sich groß zu
verabschieden, verschwanden wir, ehe das Fest noch richtig begonnen hatte. So
wie immer. Egal, ob es sich um die Feierlichkeiten zum 1. Mai handelte, dem Tag
von Armee und Marine oder den Siegesfeierlichkeiten zur Beendigung des 2.
Weltkrieges. Ganz zu schweigen von den unter der Hand geduldeten orthodoxen
Festen. Die Volkovs glänzten mit Abwesenheit. Mischa, wie die anderen Kinder
mich nannten, war nicht dabei. Ganz gleich, wie sehr ich mich auch auf die
Paraden und die Choreographien freute, die wir in der Schule einstudiert
hatten. Denn Mischas Vater, dem schon zweimal der Personalausweis abgenommen
worden war, musste sich betrinken. Mit einer Flüssigkeit, deren bloßer Anblick
Übelkeit bei mir auslöste.
6
Ich
hatte den jungen Mann irgendwo im Wienerwald verscharrt und den Wagen auf der
anderen Seite der Stadt auf dem Parkplatz eines großen Einkaufszentrums
abgestellt, wo er sicherlich bald entdeckt und seinem Besitzer nach den
üblichen behördlichen Procedere wieder übergeben wurde. Die Spuren meines
Gewaltausbruchs hatte ich akribisch beseitigt und so würde man eher nur
zufällig auf einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden einer Person und
einem Autodiebstahl stoßen. Am letzten Abend vor der Ablösung bat mich Anja
Pescher in ihre Wohnung. Sie war zweifelsohne eine attraktive Frau, aber es
wäre mir lieber gewesen, draußen im Flur auf einem Stuhl zu sitzen und die
Nacht bei einem Sandwich und einer Dose Pepsi abzureißen. Doch sie bestand
darauf. Ich kannte ihr Appartement vom Erstgespräch, in dem Hausberger und ich sichergestellt
hatten, dass ein Angriff auf ihre Person ausschließlich über die Wohnungstür
erfolgreich sein konnte, da alle Fenster und auch der Balkon im siebten Stock
alarmgesichert und für einen Eindringling von außen nur schwer zugänglich
waren. Würde es trotzdem jemanden gelingen, an eine der Scheiben zu gelangen,
wäre er zwei Sekunden später bereits von uns gestellt geworden. So gesehen war
es eine mehr als einfache Observation. Und dementsprechend gelassen war ich
auch. Es war eine Routineangelegenheit. Mehr nicht.
„Was
halten Sie davon?“, fragte sie mich und legte einige Blätter Papier am großen
Tisch inmitten der Küche aus. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie selbst hier
drinnen niemals etwas gekocht hatte. Nicht so wie Großmütterchen, die ich nur
vom Hörensagen gekannt hatte, da mein Vater jeden Kontakt zu den Mitgliedern
unserer Familie strikt untersagte und diese Anordnung auch mit
dementsprechenden Nachdruck durchsetzte. Großmütterchen, wie sie meine Mutter
in ihren sentimentalen Momenten nannte, hatte aus Nichts ein leckeres Essen
gezaubert. Und dem, was der Garten hergab. Borschtsch, Wareniki, Kohlrouladen.
Hin und wieder sogar Pampuschky, mit Marmelade gefüllte Krapfen. Ich besah mir
die Zettel eine ganze Weile und empfand das Gleiche, was wohl auch der
Verfasser dieser Nachrichten empfunden hatte. Tiefe Abscheu gegen die
politische Haltung von Anja Pescher, die keine Gelegenheit ausließ, sich als
moralische Wortführerin in der Medienlandschaft hervorzutun. Mit wenig
demokratischen Mitteln, wie ich fand. Aber geschützt von einem Arbeitgeber, der
dieselbe Doktrin verfolgte. Den uferlosen Liberalismus.
„Nun?“,
erinnerte sie mich an ihre ursprüngliche Fragestellung. Ich war Profi genug, um
meine Privatmeinung hinten anzustellen. Ich verweigerte aber eine von ihr wohl
erwartete Bekundung der Ablehnung zu diesen Schriften, die mitunter sehr subtil
gehalten waren.
„Meinungsmachende
Medien und dort exponierte Personen wie Sie haben viel Macht“, wich ich
stattdessen aus. Anja Pescher fuhr heftig durch ihr blondes Haar. Es war spät
geworden und ihr Makeup saß keineswegs mehr perfekt. Das machte sie etwas
menschlicher für mich.
„Sympathisieren
Sie etwa mit diesem Menschen?“, fragte sie nun fast außer sich. In ihrer Welt,
ihrer Umgebung hatte sie niemals etwas anderes als gefühlte Zustimmung für das
wahrgenommen, was sie tat, wofür sie sich einsetzte. Was ihre Meinungen gerade
nur verfestigte. Ich schob die Gardinen vor dem Küchenfenster beiseite und
blickte raus auf die Lichter der Stadt.
„Ich
bin in der Ukraine geboren, bin nach dem Zerfall der Sowjetunion nach
Frankreich gegangen und lebe seit geraumer Zeit hier in Österreich. In all den
Jahren hatte ich beruflich in vielen Ländern zu tun. Ich kenne die Welt also
aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Aber nirgendwo ist mir so ein irrationaler
Hang zur Selbstzerstörung begegnet wie hier.“ Sie wusste, worauf ich
hinauswollte.
„Sie
sind also ein Traditionalist?“, versuchte sie es etwas gar plump.
„Nein“,
antwortete ich ohne Umschweife. „Ich glaube, dass jedes Volk, jede Nation seine
eigene Identität hat und diese aus falsch verstandener Rücksichtnahme auch
nicht aufgeben sollte.“ Anja Pescher stand dem in Opposition. Sie trug die
Illusion einer Welt vor sich her, in der es am Ende keine Schattierungen mehr
gab. Das machte ich ihr zum Vorwurf. Sie maßregelte vom Rücken eines Rosses
herab all jene, die nicht bereit waren, ihren Weg in die Identitätslosigkeit mitzugehen.
Wenngleich sie diesen in weitaus bunteren Farben zeichnete, als ich das zu
erkennen vermochte. Und dabei niemals jenen Elfenbeinturm verließ, der ihr die
Sicht auf die Wirklichkeit versperrte.
„Ach,
Sie sind doch auch nur so ein verkappter Faschist“, klagte sie mich plötzlich
sehr verächtlich werdend an. Auch diese Taktik der Totschlagsargumentation war
mir durchaus bekannt. Sie wurde in den Medien landauf, landab beinahe religiös
zelebriert. Daher lächelte ich nur freundlich.
„Kann
ich sonst noch etwas für Sie tun?“ Sie schüttelte den Kopf. Ich machte mich auf
den Weg zurück zu meinem Stuhl.
„Welchen
Pass haben Sie eigentlich?“, rief sie mir fragend nach. Ich drehte mich um und
blieb kurz stehen.
„Einen
Französischen, Frau Pescher.“ Jetzt war sie es, die lächelte. Und einen Moment
lang verstand ich sie. Ja, auch ich hatte mich befreit und mir eine bessere
Lebensperspektive verschafft. So, wie es Millionen von Menschen auf dieser Welt
gerade auch taten. Doch hatte ich seinerzeit womöglich einen höheren Preis
dafür zahlen müssen.
Rückblende
Die
Kälte, die mir daheim widerfuhr, konnte die Schule nur unzureichend
kompensieren. Aber immerhin. Ganz nach dem leninistischen Leitbild des stetigen
Lernens erfuhr ich dort so etwas wie Zuspruch. Denn trotz der Anforderungen auf
unterschiedlichsten Wissensgebieten, die man an mich, an uns stellte, wurde
auch immer wieder die individuelle Begabung gefördert. Jeder hatte ein Talent.
Man musste es nur freilegen. Was Aufgabe der Pädagogen war. Und mein Versagen
wäre letztlich auch ihres gewesen. So löste sich manches in Wohlgefallen auf,
was ich aber erst sehr viel später ernsthaft hinterfragte. Mir jedenfalls wurde
eine gewisse literarische Befähigung attestiert und so deckte mich einer meiner
Lehrer regelmäßig mit Büchern bekannter russischer Autoren ein, deren Werke
nicht verboten oder zumindest kritisch beäugt wurden. Zuerst bekam ich Tschukowski,
Marschak und Nossow zu lesen, später dann auch Gorki, Scholochow und Tolstoi.
Und tatsächlich. Ich fand dort etwas, was ich bislang vergeblich gesucht hatte.
Liebe.
7
Anja
Pescher kämpfte weiter für ihre Ideen, ohne sich dabei selbst in die
Verantwortung zu nehmen und ich strich wieder durch die Straßen, ehe man mich
für einen neuen Auftrag einbestellte. Das konnte schon am nächsten Tag sein. Je
nachdem, welchen Kunden der Chef gerade am Schirm hatte und wen er für den
jeweiligen Job am geeignetsten hielt. Was oft ganz unterschiedliche Beweggründe
hatte. Aber das bewertete ich nicht. Ich war auf Abruf verfügbar. Ein anderes
Leben kannte ich nicht. Hatte niemals etwas anderes kennen gelernt. Wenn mich
die Prügel meines Vaters etwas gelehrt hatten, dann die Dinge so hinzunehmen,
wie sie nun einmal waren. Ohne Strich, ohne Komma. Oft fragte ich mich, ob ich
noch ein eigenständiges Individuum war, oder bloß der langweilig hin und her
geschobene Spielball in einer längst entschiedenen Begegnung. Ich ging die
Prater Hauptallee entlang und bog dann links zum Stadion ab. Tauchte ins
Getümmel der dort hinströmenden Menschen ein und blieb schließlich bei einem
der Würstelstände vor dem mächtigen Oval stehen. Drängte mich durch
erwartungsvolle Fußballfans und betrunkene Zaungäste und bestellte eine
Bratwurst mit scharfen Senf, einer Semmel und einer Dose Bier. Ich besah mir
die Leute rings herum und erinnerte mich zurück an das Jahr, als ich beim
Militär eingezogen wurde. Metalist Charkiw spielte im Pokalfinale gegen Torpedo
Moskau. Da ich kurz vor der Einberufung stand, hatte ich nicht mit nach
Russland reisen dürfen und musste als treuer Anhänger der Mannschaft meiner
Heimatstadt das Spiel im Fernsehen in einer Kneipe ansehen. Das Gerät war schon
sehr alt und die Bildröhre gab zuckend die letzten Lebenszeichen in Schwarzweiß
von sich, doch als die beiden Tore für Charkiw fielen, kamen sich Leute näher,
die ansonsten einen weiten Bogen umeinander machten. Schließlich war in einem
totalitären Staat jeder suspekt. Egal ob Spitzel, Dissident, Parteifunktionär
oder einfacher Werktätiger. Wer öffentlich sein Bier und seinen Wodka trank,
musste auf der Hut sein. Warum es viele auch lieber im Verborgenen taten. Ich
aß meine Wurst, trank mein Bier aus und ging weiter. Immer mehr Leute strömten
ins Stadion. Es stand mir frei, mich ebenfalls dort hin zu begeben. Doch ich
spürte keinerlei Bedürfnis dazu. Das Spiel gegen Moskau war mittlerweile 27
Jahre her. Ich war in einer anderen Stadt, in einem anderen Land. Ja, in einem
anderen Leben. Damals war ich jung gewesen. Nun war ich älter geworden. Und
hatte meine letzten Illusionen verloren. Irgendwie beneidete ich Anja Pescher
plötzlich. Ihr war all das erspart geblieben. Aber nein. Es gab keinen Grund
für Weinerlichkeit. Nur den kurzen Schauder an eine frostige Erinnerung. Ich
hatte nicht mit in Moskau sein dürfen. Also nutzte ich die allgemeine
Glückseligkeit ob des Sieges und ging hinaus auf die Straßen meiner
Heimatstadt. Und ertränkte den nächstbesten Passanten im Fluss. Direkt
gegenüber der wissenschaftlichen Bibliothek. All das hatte seine Bedeutung
verloren. Selbst die unbekannten Gesichter, in die ich blickte, deren Leid sich
im Moment des Todes manifestierte, ließen mich gleichgültig. Ich ging an der
Untergrundbahnstation vorbei in Richtung Donauufer. Die Menschen gingen
aneinander vorbei. Wichen einander aus. Nur in speziellen Momenten wurden wir
zu dem, was man soziale Wesen nannte. In welchem politischen System wir leben,
spielte dabei kaum eine Rolle. Wir waren imstande, uns kollektiv zu freuen. In
Ekstase zu geraten. Aus welch nebulösem Grund auch immer. Aber wir waren in
demselben Augenblick auch bereit, genau das Gegenteil zu tun. Wir mussten uns
bloß entscheiden.
Rückblende
Für
einen Werktätigen der Sowjetunion war der Betrieb, in dem er angestellt war,
auch immer so etwas wie seine zweite Heimat. Auch, was die Freizeit betraf. Und
sogar die Familie Volkov, die atypisch zum sonstigen Verhalten der Leute,
selbst den Kontakt zu ihren Anverwandten abgebrochen hatte, konnte sich nicht
vor allen Aktivitäten verschließen. Und so stimmte mein Vater zähneknirschend
einem dreitägigen Ausflug nach Lettland an die Ostsee zu, im Zuge dessen, neben
den üblichen Betriebsbesichtigungen, auch der Auftritt einer Zirkustruppe aus
Finnland auf dem Programm stand. Schon der Klang eines westlichen Staates rief
bei vielen innerliche Begehrlichkeiten hervor, wenngleich sich das nach außen
hin natürlich niemand anmerken ließ. Wenn schon nicht der Blockwart um die
Ecke, ein begleitender Politoffizier würde während der Reise unter Garantie exakt
mitschreiben. Aber diese Tour, auf die ich mich so sehr freute, fiel letztlich ins
Wasser. Denn in der Nacht zuvor wurde ein Mann von der Miliz festgenommen, der
nur einen Hauseingang weiter mit seiner Frau und einem kleinen Mädchen wohnte.
Lydia hatte sie geheißen. Vom eigenen Vater im Alkoholrausch erschlagen. Weil
sie nicht gleich eingeschlafen war und noch etwas quengelte, nachdem man sie zu
Bett brachte. So hatten es die Leute erzählt. Was Evgeniy Volkov wohl zu denken
gab. Nicht, weil ein kleines Kind getötet wurde. Nein, weil man im Werk später
darüber gesprochen hatte, wie der mutmaßliche Täter von der Miliz verhaftet
worden war. Die ganzen Stufen vom 5. Stock bis zum Ausgang hinab wurde er laut
diesen Berichten auf brutalste Weise verprügelt. Nach diesem Vorfall ließ Vater
etwas mehr Sorgfalt walten, wenn ihm der Alkohol Mal wieder befahl, mich als
Ventil für seine gescheiterte Existenz zu betrachten. Der Tod der kleinen Lydia
hatte mir zwar einen herbeigesehnten Kurzurlaub verleidet, mich aber mit ziemlicher
Sicherheit vor dem eigenen körperlichen Untergang bewahrt.
8
Durch
die Misshandlungen, die ich während meiner Jugend in der elterlichen Obhut
erfuhr, hatte ich mir sukzessive einen dicken Panzer zugelegt, den ich nach
außen hin mit Gleichgültigkeit belegte. Doch trotz der Texte und Bücher, die
ich las und die mir ebenso wie der Sport einen Hauch von Selbstbewusstsein
einflößten, hatte mein Vater in einem bestimmten, sehr intimen Punkt ganze
Arbeit geleistet. Ohne mich sexuell missbraucht zu haben, war es ihm durch
perfide Suggestion gelungen, mich in meiner dahingehenden persönlichen
Entwicklung arg einzuschränken. Was erstmals in der Pubertät zum Tragen kam und
sich nahtlos bis ins Erwachsenenalter fortführte. Bis hin zum Tage dieser hier
behandelten Geschehnisse. Nachdem ich mich an der Schwärze des Wassers der
Donau satt gesehen und das leise Zischen des Stromes verinnerlicht hatte, begab
ich mich zurück in den Prater und kam schließlich in einer schmalen Straße an,
in der trotz des unwirtlichen Wetters Frauen in leichter Bekleidung ihre
Dienste anboten. Ich kam dort nur sehr unregelmäßig vorbei, da ich versuchte,
meine diesbezüglichen körperlichen Bedürfnisse auszublenden. Was nicht immer
gelang. Da ich mich eines bestimmten Fetisches bediente, um mich zu
stimulieren, war die Dame meines Begehrens bald auserkoren und ohne jegliche
Romantik begaben wir uns in einen notdürftigen Verschlag, wo ich mich
schließlich beinahe qualvoll auf einer speziellen Stelle ihres Körpers entleerte.
Wieder zurück in der Welt des Lichtes, schämte ich mich dafür. Oft fragte ich
mich, welch Typ von Mensch ich eigentlich war. Doch ich fand niemals eine
Antwort darauf. Ich war weder ein Narziss, noch ein Empathiker. Weder ein
Menschenfreund, noch ein Misanthrop. Ich existierte einfach. Daran war weder
etwas Erhabenes, noch etwas Verwerfliches. Aber genau das war es, was ich seit
jeher suchte. Das Haar in der Suppe. Den Unklang in der Symphonie. Die
Rechtfertigung davor, mich nicht selbst rechtfertigen zu müssen. Meine
Beschränktheit zu offenbaren. Ja, das war es, was ich am allermeisten fürchtete.
Mich als den zu akzeptieren, der ich war.
Rückblende
In
der kommunistischen Sowjetunion übernahm der Staat viel Verantwortung in der
Kinder- und Jugendbetreuung, wofür ich ihm bis heute sehr dankbar war. Denn
alleine in der Obhut meiner Eltern wäre ich unter Garantie vor die Hunde
gegangen. Als ich zu den Pionieren kam und das rote Dreieckstuch gebunden um
den Hals trug, nahm sich der Gruppenleiter meiner an. Er sah bei den Übungen,
die wir zur Ertüchtigung von Körper und Geist machten, in welchem Ausmaß man
mir physisch zugesetzt hatte und erstattete Meldung. Eines Abends klingelte es
dann auch an unserer Wohnungstür und zwei hochgewachsene Männer traten ein.
Mein Vater, der bereits sein übliches Quantum Trost intus hatte, wurde bei
ihrem bloßen Anblick sichtlich nervös, denn er bat mich in höflichem Ton das
Wohnzimmer zu verlassen. Ich ging ins angrenzende Kabinett und lauschte gebannt
der Unterhaltung, die daraufhin stattfand. An den genauen Inhalt dieses
Gesprächs kann ich mich nicht mehr entsinnen, doch die Schlussworte eines der
beiden Beamten blieb mir im Gedächtnis hängen. „Sollte ihr Sohn noch einmal mit
derartigen Blessuren gesehen werden, Volkov, dann werden wir Sie zur
Verantwortung ziehen. Ganz gleich, welche Märchen Sie uns dann auftischen. Und
glauben Sie mir. Das wird nicht sehr angenehm für Sie werden.“ Da ich wusste,
welch Feigling mein Vater im Grunde war, klang diese Drohung wie eine Erlösung
in meinen Ohren. Denn von nun an konzentrierte sich Evgeny Volkov ganz auf
seine Ehefrau. Was keinerlei Mitleid bei mir auslöste. Zu sehr hatte ich auch
sie zu hassen gelernt.
9
Ich
traf mich einmal in der Woche mit einem etwa 60 Jahre alten Russen in einem
Souterraincafe im achten Bezirk. Er war das, was man einen Intellektuellen
nannte. Geflohen aus Zar Putins Reich, der keinen Gefallen an Igor
Alexandrowitsch Tretjaks Ansichten gefunden hatte. Als ich mich an seinen Tisch
setzte, lag wie üblich die Komsomolskaja Prawda vor ihm. Das Propagandablatt
des russischen Präsidenten.
„Nur
wer seinen Gegner kennt, kann ihn besiegen“, begrüßte er mich wie üblich und
faltete die Zeitung zusammen. Wir gaben uns kurz die Hand. Tretjak war ein
glühender Anhänger Sacharows und schwadronierte oft stundenlang über diese
zweifelsohne herausragende Lichtgestalt der jüngeren russischen Geschichte.
Während ich den genialen Wissenschaftler in Sacharow sah, verehrte ihn mein
Freund vor allen wegen seinem Wirken als Dissident und Menschenrechtler.
Eigentlich waren Igor Alexandrowitsch und ich ein ungleiches Paar. Und doch
hatten wir uns angefreundet, als wir vor fünf Jahren etwa zeitgleich in Wien strandeten.
Ich beherrschte neben meiner ukrainischen Muttersprache auch Französisch,
Englisch und Deutsch, ebenso wie auch er. Doch wir unterhielten uns stets in
Russisch miteinander. „Schließlich beherrschen wir euch bis heute!“, begründete
er das stets scherzhaft. Doch ich erkannte, dass er damit nur seine wirklichen
Überzeugungen zu kaschieren versuchte. Denn obwohl er ein Gegner der
derzeitigen Moskauer Regierung war, blieb er doch ein Russe. Und war damit auch
der Ansicht, dass mein Heimatland ein Teil des seinen und nur durch eine
vorübergehende Schwäche in den 90er Jahren verloren gegangen war. Tretjak zog
einen Zettel aus seiner Sakkotasche und legte ihn vor mich hin. Ich überflog
den in kyrillischer Schrift verfassten Inhalt.
„Das
ist ziemlich gut“, konstatierte ich schließlich. Mein Gegenüber lächelte
kopfschüttelnd.
„Ich
wusste, dass dir das gefallen würde.“ Igor war Dozent am Institut für Slawistik
an der Wiener Universität und schrieb als Fachmann für osteuropäische Literatur
Gedichte und Artikel für oppositionelle russische Magazine. Im Exil, wie er oft
und gerne betonte. Ich bestellte bei einem etwas in die Jahre gekommenen
Kellner eine Tasse heißen Tee mit einem Schuss Rum und er orderte ein neues
Glas Bier. „Mischa“, begann er daraufhin. „Du bist ein Soldat. Erprobt im Kampf
und gestählt durch die Fährnisse des Lebens. Das habe ich, seit wir uns kennen,
immer an dir respektiert und geachtet. Ich hingegen führe mein Schwert mit
fragiler Klinge.“ Ich nickte.
„Ja“,
antwortete ich ihm ohne das Pathos, was er gerade heraufbeschwor. „Aber deine
Möglichkeiten sich größer. Ich kann mich bloß immer nur mit einem Mann messen.
Vielleicht mit zwei oder drei, wenn es hart kommt. Du hingegen erreichst
Tausende. Oder mehr.“ Tretjak strahlte. Er hatte schon einiges getankt. Wie
üblich.
„Du
bist zu bescheiden, mein Lieber“, konterte er halbherzig, um dann wieder ganz
auf seine eigene Rolle einzuschwenken. In einem endlosen Monolog über die
gesellschaftlichen Verwerfungen in Mütterchen Russland, die man nicht
stillschweigend hinnehmen dürfe. Über Putins wahnwitzige Pläne zurück zur
Weltmacht. Über die orthodoxen Würdenträger, die starr an reaktionären Werten
festhielten. Und. Und. Und. Nichts von dem, was der Professor da sagte, konnte
mich überzeugen. Am Ende interessierte es mich auch gar nicht. Aber ich horchte
ihm zu. Weil ich ihn trotz, vielleicht aber auch wegen unserer Gegensätze
mochte. Und er glaubte an das, was er mir gebetsmühlenartig immer und immer
wieder vortrug. Nicht so wie Anja Pescher, die bloß nach Aufmerksamkeit
heischte. Nun, vielleicht war es an der Zeit, ihr welche zu verschaffen.
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