Der
Autor:
Michael Koller, geboren am 14.
März 1972, lebt in Hoheneich bei Gmünd im Waldviertel. Nach Abschluss der
Handelsakademie war er in unterschiedlichen Berufszweigen tätig und lernte so
den Facettenreichtum des Lebens bestens kennen. Seine Leidenschaft war und ist
das Schreiben. Zeitungsartikel, Kurzgeschichten, Gedichte, Romane und
Internetblogs umreißen das Repertoire des Enfant Terribles der Waldviertler
Schreibzunft. Nach dem Debütroman "Fallstricke", dem Nachfolger „Letzter
Elfmeter“ und den beiden Thrillern "Clara" bzw. "Jagd im Olivenhain" etabliert
sich Michael Koller mit seinem fünften Werk unter dem Titel "Tödlicher
Kunstfehler" als Autor niveauvoller Spannungsliteratur. Schön und grob. Harsch
und liebevoll. Kaum alltäglich. Damit sind die Leitmaximen von Michael Kollers
Schaffen treffend umschrieben.
Kurzbeschreibung:
Michael Haymann
lebt einsam und abgeschieden in seiner Wohnung in der Waldviertler Kleinstadt
Mürren. Er vergräbt sich in den historischen Landkarten, mit denen er Handel
treibt und hadert mit den Chancen, die im Leben an ihm vorübergegangen sind. Als
er sich einer Operation unterziehen muss, wird er Opfer eines Kunstfehlers, der
ihn vollends aus der Bahn wirft. Haymann pflegt nur zu sehr wenigen Menschen
Kontakt. Darunter sind zumeist Prostituierte, aber auch sein ehemaliger
Schulfreund Burkhard Flöttl, der als Psychiater praktiziert und nach und nach
damit beginnt, seinen Schachpartner und nunmehrigen Patienten mit Worten und
Medikamenten zu manipulieren. Der Krankheitsverlauf Michaels bessert sich nicht
und er muss regelmäßig ins Spital nach Karst, wo er dazu übergeht seinen von
Kindheit an in ihm schwelenden Hass auf andere Menschen zu projizieren. Was
schließlich im Mord an einer Ärztin gipfelt. Von nun an wird der Täter mehr und
mehr zum Spielball zwischen Rache, Suggestion und erpresserischen Absichten. Nur
auf seinen Geschäftsreisen kommt der Protagonist mit sich ins Reine. Doch auch
dort lauert die Gefahr. Zumal er bei einem Messebesuch in London in dubiose
Händel mit einem Mann namens Karim Rashid gerät. Als er eines Tages im Flugzeug
Tanja Petzold kennen lernt, scheint ein Wandel in seinem Leben stattzufinden.
Doch die Vergangenheit holt ihn immer wieder ein. Baut sich von mal zu mal
bedrohlicher vor ihm auf. Bis weitere Menschen sterben. Und seine Lage immer
verzweifelter wird. Trotz Verlobung und gut gehender Geschäfte hat sich längst
der Himmel über seinem Haupt verfinstert. Bevor dieser endgültig über ihn
zusammenbricht, muss er eine schwere Entscheidung
treffen.
Einschätzung:
Der Roman zeigt in drei Kapiteln die Einsamkeit eines
Menschen auf, der sich längst außerhalb der gesellschaftlichen Norm befindet und
getrieben durch unwürdige Zustände im staatlichen Gesundheitssystem seine
Legitimation sucht, sich an jenen zu rächen, die seiner Meinung nach
mitverantwortlich für seine Misere sind. Der Protagonist erlebt, wie sein
Vertrauen missbraucht, kann sich aber auch an der Schönheit der Liebe erfreuen,
die ihm geschenkt wird. Diese ständig auf ihn prallenden Gegensätze zwischen der
Hingebung zu seiner Freundin und seiner eigenen Menschenverachtung, zwischen der
Muse, die er in seinem Beruf findet und den Abscheulichkeiten seiner Taten,
beginnen ihn innerlich zu zerreißen. „Tödlicher Kunstfehler“ ist der Versuch
auszudrücken, dass auch ein Mensch ohne jegliches soziales Gewissen vor seinen
eigenen Gefühlen nicht gefeit ist. Wozu es niemals einer Moral bedarf. Bloß
eines beschädigten Charakters, über den wir von Zeit zu Zeit wohl alle
verfügen.
Leseprobe:
JAHR NULL:
„GUT IST BÖSE“
1
Ein gleißend
rotes Licht umhüllte meine Augen wie ein brennender Schleier. Stimmen, die
fragmentarisch zu mir durchdrangen. Ich versuchte zu sprechen. Doch jeder Laut
erstickte in meinem verdörrten Hals. Nur langsam kehrte ich zurück. Zurück in
eine Welt, die weder einen Anfang, noch ein Ende kannte. Bloß die Individuen,
die Kreaturen, die in ihr lebten. Der signifikante Klingelton eines sich
öffnenden Lifts, dann wieder eisige Ruhe. Die Decke, die über mich gebreitet
war, spendete keine Wärme. Keinen Trost. Nur ein Stück Stoff, das den
gemarterten Körper eines Menschen notdürftig verhüllte. Als ich am Empfangspult
der chirurgischen Station vorbeikam wurde ich gewahr, dass ich in einem Bett
liegend von irgendjemandem geschoben wurde. Hin zu einem unbekannten
Bestimmungsort. Ehe ich diesen erreichte, tauchte ich erneut in jene Leere ein,
der ich gerade eben noch entflohen war.
2
Als ich wieder
zu mir kam, lag ich in einem halb verdunkelten Raum. Lediglich das elektrische
Licht, dass von draußen durch die offen stehende Gangtür herein drang, gab
etwas Orientierung. An meinem linken Oberarm war eine Manschette angebracht,
die bis zum Erreichen des vollen Volumens aufgeblasen wurde, in diesem Zustand
dann eine Weile lang verharrte, ehe die Luft wieder langsam daraus entwich.
Zumindest solange, bis die Prozedur nach kurzer Zeit von Neuem begann. Ein
automatisches Blutdruckmessgerät, das im Begriff war mir den Arm vom Körper zu drücken.
Ängstlich blickte ich mich um, soweit ich das überhaupt imstande war, und ließ
die Eindrücke kurz auf mich wirken. Ein grüner Paravent zu meiner Linken, ein
gebogenes Aluminiumrohr am Fußende meines Bettes, ein schwarzer Monitor mit grünen,
zuckenden Linien mittendrin, die Gangtür und einige mit kleinen Laden versehene
Schränke. Auf dem hohen Nachtkästchen neben mir stand ein Plastikbecher,
gefüllt mit farbloser Flüssigkeit und einem kleinen, an einem Stiel befestigten
Schwamm darin. An einem Infusionsständer, der sich dicht neben meinem Bett
befand, hingen drei oder vier Flaschen, deren Schläuche irgendwo unter meiner
Bettdecke verschwanden. Doch ich wagte es nicht nachzusehen. Erst jetzt
bemerkte ich einen weiteren Schlauch, der aufgegabelt aus meinen Nasenlöchern
drang und sich ebenso unterhalb des Lakens verlor. Je länger ich an diesen
Fremdkörper in mir dachte, desto unangenehmer wurde er mir. Er musste bis tief
in mich hineinragen. Zumindest verspürte ich ein stetiges Scharren und Kratzen
inmitten meines Kopfes. Als ich versuchte, meinen Körper etwas zu verlagern,
vernahm ich ein äußerst unangenehmes Ziehen im Bereich meiner Genitalien.
Vorsichtig ertastete ich mit meiner rechten Hand diesen Bereich und bekam dabei
den Ausgang eines Harnkatheters zu fassen. Plötzlich wurde ich von Panik bemächtigt
und ich war gewillt, all diese Schläuche an denen ich hing herauszureißen. Doch
ich war zu schwach dazu. Jede Bewegung bereitete mir schier unerträgliche
Schmerzen. Ich fühlte mich wie vom Bügel einer Mausefalle zerquetscht.
Ausgebreitet am Seziertisch, wo man Sehnen und Bänder aus mir herausgerissen
hatte und sie hoch über meinem Kopf an zwei gekreuzten Stangen festband. Wie
bei einer Marionette, die von ihrem Puppenspieler verlassen wurde.
3
Nach einer
ganzen Weile war ich endlich im Stande gewesen meinen inneren Schweinehund zu
überwinden und mich etwas anders zu positionieren, um meinen schmerzenden Rücken
ein wenig zu entlasten. Was aber zur Folge hatte, dass all die an und in mir angebrachten
Gerätschaften jede meiner Bewegungen mit machten und mir somit weitere Pein
bereiteten. Am Schlimmsten war der Katheter, der irgendwo da unten seitlich aus
meinem Glied ragte. Der unbarmherzig an mir zerrte und mir meine völlige
Hilflosigkeit jede Sekunde aufs Neue vor Augen führte. Ich war gefangen in
diesem Alptraum und vollends ausgeliefert. Die Pfleger und Schwestern, die von
Zeit zu Zeit kurz vorbeischauten, waren zu abgeklärt, um von meinem Zustand
Notiz zu nehmen. Schließlich bot sich ihnen tagein, tagaus das stets gleiche
Bild auf dieser Überwachungsstation dar. Es machte also keinerlei Sinn sich zu
beklagen oder gar um Linderung zu bitten. Es hätte auch nichts geändert. Also
lag es an mir, mit den Umständen fertig zu werden. Aber wie? Und für wie lange?
Je tiefer ich in meine eigene Verzweiflung tauchte, desto dramatischer wirkte
sich das auf meine Psyche aus. Ich versuchte mich nicht zu bewegen, an nichts
zu denken, doch keine Sekunde später waren all diese Vorhaben wieder über den
Haufen geworfen. Ich wollte aufstehen, mich bewegen, mir das Leid aus den
Gebeinen laufen, aber es ging nicht. Ich war gefesselt an diesen zahllosen
Ketten, die mich langsam zu zerreißen drohten. Mein Mund war inzwischen derart
ausgetrocknet, dass ich wütend um etwas zu trinken rief. Doch ich erhielt
nichts weiter als diesen in Wasser getränkten Miniaturschwamm, der meinen Durst
eher noch verschlimmerte. Ich wusste, dass mir eine lange, höllische Nacht
bevor stand und bat um ein Schlafmittel. Aber auch das zeigte keinerlei
Wirkung. Immer wieder vernahm ich Rufe von Patienten, die in anderen Kojen
lagen. Jenseits meines eigenen Blickwinkels. Schreie voll von Schmerz, Hass und
Verzweiflung. Es gab also Leute, denen es noch dreckiger ging als mir selbst.
Doch das war kein großer Trost für mich. Nichts war ein Trost, wenn einem das
Messer an die Kehle gedrückt wurde. Vom Sensenmann höchstpersönlich.
4
Irgendwie
überstand ich die Nacht und als das Morgenlicht den Raum flutete, zog sich der
Wahnsinn in mir langsam wieder zurück. Ich hatte kein Auge zugetan und im
Stillen so ziemlich alles und jeden verwünscht, der mir eingefallen war. Mich
selber inklusive. Die Schatten waren gewichen und ich beobachtete mit dem Kinn
unter meiner Bettdecke die morgendliche Routine des Personals. Emsig wurde der
Bestand von Verbrauchsartikeln aufgefüllt, Papierkram erledigt und die
Hinterlassenschaften der Nacht beseitigt. Eine Putzfrau säuberte Inventar und
Boden, während ich die Nachrichten lauschte, die aus dem Radio im Nachbarzimmer
bis hierher drangen. Wieder vergingen einige Minuten, an denen ich kurzzeitig
nicht an meine eigene Misere denken musste. So hangelte ich mich weiter. Von
Minute zu Minute, von Stunde zu Stunde. Während Schmerz und körperfremde
Apparaturen an mir zerrten. Zwei hochgewachsene Krankenschwestern traten
schließlich ans Bett, maßen meine Körpertemperatur, überprüften die Anzeigen am
Überwachungsmonitor und hievten mich mit geschickten Handgriffen schließlich
hoch. Das Laken fiel zur Seite und als man mich des Nachthemdes entledigte,
konnte ich erstmals einen Blick auf meinen Körper werfen. Neben Katheter,
Beatmungsschlauch und den Zugängen für die Infusionen ragten aus einem dicken
Verband, der um meinen ganzen Oberkörper gewickelt war, drei weitere Plastikschläuche
hervor. An ihren Enden hingen propenvolle Drainagesäcke, gefüllt mit einer
gallertartigen, dunkelbraunen Flüssigkeit. Eine der Schwestern nahm eine große
Bettpfanne und entleerte über eine Art Wasserhahn aus Kunststoff die Beutel. Anschließend
wurde mein Leib mit einem Waschlappen notdürftig abgerieben und nachdem ich
einige Sekunden lang auf eigenen Füßen gestanden hatte, zogen mir die Damen ein
neues Hemd über und verstauten mich mit meinen zahlreichen Anhängseln wieder im
Bett. Damit war die Morgentoilette erledigt. Die beiden hatten mir in
freundlichen Worten Mut zugesprochen, doch instinktiv wusste ich, dass etwas
nicht stimmte. Ich hatte mich im Vorfeld erkundigt und wusste daher, dass nach
einer Gallen-OP ein derart langer Aufenthalt auf der Überwachungsstation
unüblich war. Normalerweise wurden die Patienten nach zwei Stunden wieder in
ihre Zimmer auf der Station verbracht. Ich hingegen war längstens überfällig.
5
Der
Stationsvorstand persönlich nahm die Visite vor. Primarius Tischler. Ein gut fünfzigjähriger
Mann, mittelgroß mit ergrautem Haar und ebenso ergrauten, buschigen
Augenbrauen. Haut, Nase und Gesichtszüge wiesen deutlich darauf hin, dass er
mehr Alkohol zu sich nahm, als ihm gut tat. Was am Lande, in der Provinz aber
nicht weiter Aufsehen erregte. Es gehörte praktisch zum guten Ton, zur
gesellschaftlichen Norm, sich in gemütlicher Runde zu besaufen. Schlecht wurde
letztlich nur über jenen geredet, der als erster sein Glas erhob. Ich hatte
über die Biederkeit des Bürgertums wenig bis gar keine Meinung. Da ich weder
dazugehörte, noch dazugehören wollte. Ich hatte meine eigene Welt. Und die war
gerade im Begriff einzustürzen. Ob Trunksucht für einen im aktiven Dienst
stehenden Chirurgen der geeignete Zeitvertreib war, stand freilich auf einem
anderen Blatt Papier. Doch wo kein Kläger, da auch kein Richter. Für eine
größere Operation hätte ich mit Sicherheit ein anderes Haus aufgesucht, doch
eine Routinesache wie die Entfernung einer von Steinen zersetzten Gallenblase
traute ich selbst den Ärzten im Krankenhaus des beschaulichen Städtchens Mürren
zu. Wohl auch aus Bequemlichkeit, da meine Wohnung keine 300 Meter von der
Klinik entfernt lag.
„Wie geht es
Ihnen, Herr Haymann?“, fragte Tischler durchaus freundlich. Er hatte
augenscheinlich sein Quantum Trost bereits intus. Was sollte ich darauf schon
groß sagen? Also ließ ich diese rhetorische Frage unbeantwortet und deutete
hingegen auf die Schläuche in meiner Nase und zwischen meinen Beinen.
„Wann kommen die
raus?“, wollte ich wissen. Der Primar verzog etwas das Gesicht, blickte dann um
Bestätigung suchend auf die Uhr und verkündete schließlich das Edikt, dass über
mich gefällt wurde.
„Sie können ihn
in einer halben Stunde nach draußen verlegen“, diktierte er der
Krankenschwester, die den Visitenwagen neben ihm her schob und eifrig diese
Anordnung notierte. „Harnkatheter und Beatmungsschlauch können entfernt
werden.“ Ehe ich mich nach dem Verlauf der Operation erkundigen konnte, war er
auch schon wieder weg. Er überließ es also jemand anderen, mir dahingehend
Auskunft zu erteilen. Zumindest aber würde ich in absehbarer Zeit zwei dieser
Folterwerkzeuge wieder los werden. Und mit Sicherheit auch das
Blutdruckmessgerät, das meinen Oberarm durchknetete wie ein Sumoringer. So
gesehen fühlte ich mich fast schon glücklich.
6
Die Tage
vergingen und ich erholte mich langsam. Nach und nach kam heraus, dass bei der
OP einiges schief gegangen war und dass diese entgegen der vorherigen
Vereinbarung nicht von Primarius Tischler, sondern von einer unerfahrenen Oberärztin
namens Veronika Knauss durchgeführt wurde, die doppelt solange wie üblich dafür
gebraucht hatte. Durch den dabei aufgetretenen erheblichen Blutverlust, einem
angeritzten Leberbett und weiteren chirurgischen Fehlleistungen durfte ich es
nur meiner guten allgemeinen körperlichen Konstitution zuschreiben, noch unter
den Lebenden zu weilen. Doch wären diese Komplikationen nicht schon genug
gewesen, hörten zwei der drei Drainagebeutel einfach nicht auf damit, immer und
immer wieder von neuem voll zu laufen. Die Ärzte erklärten das damit, dass es
mitunter dauern konnte, ehe sich im Inneren meines Körpers wieder alles verschloss
und nachdem ich halbwegs bei Kräften war, wurde ich nach etwa zwei Wochen
vorübergehend aus der stationären Pflege entlassen. Mit der Auflage, dreimal
täglich die sich mit Gallenflüssigkeit füllenden Säcke selbst zu entleeren und
alle drei Tage zur Kontrolle ambulant zu erscheinen. Im Zuge dessen würden mir
auch die Nahtklammern an der Eingriffsstelle entfernt werden. So ging ich also
dahin. Mit zwei Schläuchen aus meinem aufgeschlitzten Bauch hängend. Und einer
düsteren Vorahnung im Gepäck.
7
Meine Wohnung in
der Waldviertler Kleinstadt Mürren lag in der obersten Etage eines
fünfstöckigen Wohnhauses. Mürren hatte zwei Stadtteile. Die Altstadt und die
Neustadt. Jenseits der sehr nahen Grenze befand sich Tschechisch-Mürren, dass
vor dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls zum Gemeindegebiet gehörte. Worüber
heutzutage aber kaum noch jemand sprach. Über 40 Jahre Stacheldraht hatte jede
Gemeinsamkeit zersetzt. Auch wenn von politischer Seite versucht wurde, diesen
Umstand in Abrede zu stellen. So, wie die Politik, getrieben vom jeweils
herrschenden Zeitgeist, immer bemüht war die Realitäten zu übersehen und an
ihrer statt fragwürdige Ideologien in die Köpfe der Menschen zu pressen. Egal ob
Links, Mitte oder Rechts. Am Ende fischten alle bloß mit verdorbenem Köder.
Doch was kümmerte mich das? Ich war ein Mensch, der schon lange aufgehört hatte
dazu zu gehören. Oder dazu gehören zu wollen. Teilhabe einzufordern. Ich hatte
meine eigene Welt, wo sich keine Menschen, keine Ideen gegenseitig aufrieben.
Ich hatte meine Land- und Seekarten aus allen Epochen der Menschheit, mit denen
ich Handel trieb. Meine Eltern hatten einst andere Pläne mit mir gehabt. Hatten
mich in einen gesichtslosen Staatsposten in Wien mithilfe politischer Schieber
hineingedrückt, wo ich in Demut auf Tod oder Pensionierung, oder beides warten
sollte. Doch derlei weltliche Sicherheiten waren nichts für mich gewesen und so
hatte ich mich davon auch wieder befreit. Wenngleich viel zu spät. Als ich die
Tür zu meinem Reich aufschloss, eintrat und mich verbarrikadierte, atmete ich
endlich wieder den Odem der Freiheit ein. Den Geruch unendlicher Einsamkeit,
die ich in den vergangenen Wochen so sehr vermisste. Als ich nach tagelangen,
starken Schmerzen den Unerträglichkeiten inmitten meines Körpers kapitulieren
musste und das Krankenhaus aufsuchte, war es für mich wie ein Gang zum Schafott
gewesen. Es gab für mich kein größeres Grauen, als mit wildfremden Menschen
wenige Quadratmeter in einem überfüllten Krankenzimmer zu teilen. Gottlob wurde
ich bei meiner Aufnahme jedoch in ein etwas gemütlicheres Zweibettzimmer
gesteckt, da man mich zwar als öffentlichkeitsscheuen, aber zumindest für Mürrener
Verhältnisse doch wohlhabenden Mann erkannte, der es verabsäumt hatte eine
Zusatzkrankenversicherung abzuschließen, die ihn vor der Unterbringung mit dem normal
Sterblichen Pöbel verschonte. Mir war derartiges Klassendenken stets
schleierhaft gewesen. Schließlich wurde die Arbeit nicht erhabener, wenn man
anstatt der Königin von England bloß dem örtlichen Straßenkehrer den Hintern
abwischen musste. Beides stank in gleichem Maße. Aber ich durfte nicht
undankbar sein. Schließlich hatte mich diese Engstirnigkeit vor einem
Schlafsaal schnarchender Individuen bewahrt. Zumindest fürs erste.
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Da ich einen
unruhigen Schlaf hatte, bedingt durch die beiden Drainagebeutel jedoch nur auf
einer Seite liegen konnte, verbrachte ich eine erste sehr ungemütliche Nacht
zurück in meinen eigenen vier Wänden. Aber immerhin. Ich war wieder alleine.
Daheim in meinem bescheidenen Penthouse. Luxus war ein weit dehnbarer Begriff.
Manche wollten mit goldenen Löffeln speisen, mit italienischen Sportwägen
herumbrausen oder Pelz von zu Tode gemarterten Tieren tragen. Mir genügte schon
eine gute, preislich moderate Flasche Rotwein, eine Sinfonie von Prokofjew und
das Buch eines Autors der sich jener Kunst bemächtigt hatte, seine Leser nicht
über Gebühr mit Beiläufigkeiten zu ermüden. Dazu ein guter kulinarischer Leckerbissen,
gezaubert in meiner hauseigenen Küche und ich war mehr als zufrieden. Nach dem
Intermezzo im Staatsdienst hatte ich den Sprung ins kalte Wasser gewagt und ein
anfangs sehr kleines Handelsgeschäft mit historischen Karten und Atlanten
aufgezogen. Seit frühester Jugend frönte ich dieser Leidenschaft und hatte mich
rein autodidaktisch in diesem Metier weitergebildet. Ein Studium in Geschichte
und Geographie wurde seitens meines Elternhauses nicht in Betracht gezogen und
als ich endlich die Kraft hatte mich davon zu lösen, war es zumindest
dahingehend schon zu spät gewesen. Ich war nicht der Typ, der sich als knapp
Dreißigjähriger noch mit seinen Kommilitonen in der Mensa ums Essen anstellen
wollte. Da ich für die Wissenschaft auf immer und ewig verloren war, versuchte
ich eben als schnöder, aber fachlich ambitionierter Händler meinen Beitrag in
diesem Feld der Bemühungen zu leisten. Mit der Zeit wurde man auf mich
aufmerksam, da ich in einigen Zeitschriften als Laie veröffentlichen durfte und
so war ich bald ein anerkannter Teil der Branche. Obwohl ich keine offiziellen
Expertisen ausstellen durfte, da mir dahingehend der akademische Grad fehlte,
vertrauten doch sehr viele Liebhaber meinem Urteil und der Ware, die ich abseits
meiner eigenen Sammlung zum Verkauf feilbot. Ich hatte einen privaten Schauraum
in meiner Mürrener Wohnung, tätigte den Löwenanteil meiner Transaktionen jedoch
über meine Homepage. Ich traf mich nach Vereinbarung zumeist in der Lobby eines
vornehmen Wiener Hotels, speiste mit meinen Kunden im dortigen Restaurant in
der Regel zu Abend und kam im Zuge dessen zu einem Abschluss. Wenn der Preis
stimmte. Nach gut zehn Jahren im Geschäft konnte ich es mir leisten, Angebote
auch auszuschlagen. Mitunter reiste ich zu Interessenten, wenn es sich um
wirklich lukrative Geldbeträge handelte und war ferner auf Einkaufstouren in ganz
Europa, Übersee und Fernost unterwegs. Abseits dieser mitunter sehr
abwechslungsreichen beruflichen Tätigkeit zog ich mich jedoch zurück und genoss
die Einsiedelei in diesem kleinen Provinzstädtchen, wo ich stets einen ebenso
eindrucksvollen wie bleibenden Eindruck auf die des Menschen ureigene
Bösartigkeit erhaschen konnte. Dazu bedurfte es oft genug nicht mehr als eines
Blickes durchs Fenster auf die Straße oder dem hinterseitigen Hof.
9
In der akademischen
Fachwelt war ich durch meine weitreichenden Kenntnisse zwar geduldet, aber
keineswegs als gleichwertiger Kollege angesehen. Obwohl mich zu nächtlicher
Stunde schon einmal auch Koryphäen um Rat fragten, die mich noch tags zuvor im
illustren Kreis der promovierten Fachleute als Scharlatan oder profitgierigen
Emporkömmling bezeichnet hatten. Zwar blieben mir die großen offiziellen
Expertisen verwehrt, nichts desto Trotz hatte ich auch in diesem Segment eine
nicht unbeachtliche Rolle eingenommen. Als Teil des großen und kaum
überschaubaren Kunstmarktes war auch die Kartographie ein Feld, wo manch
Mitspieler lieber im Verborgenen blieb. Beziehungsweise das Objekt seiner
persönlichen Begierde. Heiße Ware, wie man Artefakte mit schwammiger oder
womöglich auch krimineller Herkunft nannte, konnten kaum von Experten
begutachtet werden, die Ruf und Titel dabei zu verlieren hatten. Diese würden
mit Garantie bei den Behörden Meldung erstatten. Also kamen Leute wie ich ins
Spiel. Experten, denen das Diplom fehlte, welches sie als solche auszeichnete.
Und dennoch den Doktoren und Professoren um nichts nachstanden. Wer ein derartiges
Handelgut feilbot oder erwarb, wollte nichts desto trotz eine Garantie haben.
Und die stellte ich gegen dementsprechendes Salär aus oder verwehrte sie.
Schließlich entschied über Echtheit oder Fälschung nicht der Name eines Laien
oder der Titel eines anerkannten Experten, sondern der Ruf, den diese Personen
genossen. Ich kannte einige hochgeehrte Dozenten, die seit langer Zeit schon zu
keinem Gutachten mehr gebeten wurden, da sie sich in der Vergangenheit nur
allzu häufig von Fälschern hinters Licht hatten führen lassen. Mir war ein
derartiger Fauxpas bis dato noch nicht unterlaufen. Vielleicht auch deshalb,
weil der Schwarzmarkt ein weitaus gefährlicheres Pflaster war als die
öffentliche Bühne, wo man bloß verbale Schelte zu befürchten hatte.
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Die beiden
Beutel liefen in Regelmäßigkeit alle sechs Stunden voll. Ich war zur ersten
Kontrolle im Krankenhaus erschienen und hatte dort nach endloser Wartezeit nur
fadenscheinige Ausreden zu hören bekommen. Ganz offensichtlich war ich zum
Opfer eines Kunstfehlers geworden. Eines missglückten Eingriffs. Die Ärzte
hatten mich mit Ratlosigkeit vertröstet und mir einen neuen Kontrolltermin
zugewiesen. Irgendetwas musste also geschehen,
doch mir fehlte jegliche Orientierung. Mein ganzes bisheriges Leben lang hatte
ein Wort wie Krankheit keine Rolle für mich gespielt. War hinter einem Schleier
verborgen geblieben, der sich stets nur vor den anderen lüftete. Nun zeichnete
sich auch vor meinen Augen jener Verfall des Lebens ab, den ich zwar stets
wahrgenommen, aber bisher verdrängt hatte. Ein gesunder Mensch wähnte sich gerne
als unverwüstlich. Als über so profanen Dingen wie dem Tode stehend. Ich hatte
kurz darüber nachgedacht, neben der gesetzlichen zusätzlich auch eine private
Krankenversicherung abzuschließen, diesen Gedanken aber ebenso schnell wieder
verworfen, wie er in mir aufgekeimt war. Ich trug an meiner Misere keinerlei
Schuld und sah nicht ein, dafür auch noch bezahlen zu sollen. Ich begriff
einfach nicht, dass es in dieser Welt so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit
oder Wiedergutmachung nicht gab. Wer den Schaden hatte, blieb in der Regel auch
auf ihm sitzen. Recht verschaffte sich der Stärkere, der Mächtigere. Niemals
jener, der Anspruch darauf hatte. Diese Lektion war die erste, die ich in
diesem Zusammenhang lernte. Und es würden viele weitere folgen. Viele weitere, die
mich letztlich dorthin trieben, wo ich am Ende des Liedes dann auch stand.
11
Ich hörte
leidenschaftlich gerne Opern. Mozart, Verdi, Bizet, Meyerbeer. Die Freude
faszinierte mich ebenso wie die Trauer. Die Euphorie ebenso wie die
Melancholie. Im Leben lagen die Gegensätze oft sehr dicht beieinander. Und ehe
man sich versah, verschwammen sie vor den eigenen Augen zu einer zähflüssigen
Depression. Mit den Jahren wurde mir bewusst, dass meine Psyche mitunter am
seidenen Faden hing. Und dieser Zustand der Labilität, gepaart mit einem
ausgeprägten Verlangen nach Einsamkeit, konnte schon einmal meine filigrane
Seele ins Wanken bringen. Gerade dann, wenn scheinbar befestigte Pfade weggeschwemmt,
wenn die Linien unterbrochen wurden. Ich war kein Mensch, der auf große
Veränderungen eingestellt war. Der sich damit gleichmütig arrangieren konnte. Von
dem große Eigeninitiative ausging. Ich war ein Gewohnheitstier. Mit Tausenden
von Ängsten, Spleens, Phobien und anderen Sonderbarkeiten ausgestattet. Und nun
hatte mir das Schicksal einen Blick in den Abgrund in meinen eigenen Körper
geschnitten. Mich den Launen dieser Welt preisgegeben, die ich zuvor beharrlich
von mir ferngehalten hatte. Das wurde mir spätestens in jenem Augenblick
bewusst, als man mir die Zuweisung ins Krankenhaus von Karst an der schönen
blauen Donau in die Hand drückte.
12
Ich hatte mit
meiner Familie ebenso wie mit einer Vielzahl ehemaligen Freunde und Bekannter
gebrochen. Das geschah nicht auf einmal, mit einem Schlag. Nein, es ging
schleichend von statten. Ich war ein Mensch, der mit seinen Ansichten über
andere nicht lange hinterm Berg hielt. Womit ich mich seit jeher schon aus
emotionalem Gesichtspunkt unbeliebt machte. Die Leute wollten angelogen werden.
Die Heucheleien hören, die an sie herangetragen wurden. Was hinter ihrem Rücken
passierte, scherte die wenigsten. Wem die Lüge schmeckte, dem verdarb die
Wahrheit bloß den Appetit. Ich hatte mich mit meiner Offenheit sukzessive ins
Abseits gekegelt und war damit zum Außenseiter geworden. Zumindest für die
allgemeine Gültigkeit. Und um die ging es ja am Ende immer. Was man zu tun oder
zu lassen hatte, bestimmten letztlich andere. Und wer da nicht mitspielte, war
außen vor. So wie eben auch ich, der alleine in seiner Klause saß und mit sich
selber rang. Dennoch hatte ich dem herkömmlichen gesellschaftlichen Auswurf
eines voraus. Ich hatte genügend Geld, um nicht vollends im Status eines
Geächteten zu stehen. Geld wirkte wie Magie auf die Menschen. Es animierte sie,
es verzauberte sie und es zerstörte sie. Wie eine Droge. Geld war unser aller
Rauschgift. Und nur wenige kamen jemals davon los. Die Allerwenigsten. Denn
Geld war letztlich der Gutschein für jedes weltliche Bedürfnis. Und an jenem
Tag als es erfunden wurde, hatten wir aufgehört zu leben.
13
Ich lag wach in
meinem Bett und starrte in die Dunkelheit, die mich umgab. Mich auf ewig
umklammerte, wie es die Oortsche Wolke mit unserem Sonnensystem tat. Ein
kleiner, zur Wand gerichteter Ventilator surrte vor sich hin. Ich brauchte
dieses, das völlige Nichts durchbrechende Geräusch normalerweise um einschlafen
zu können. Doch in dieser Nacht nutzte nicht einmal das etwas. Ich
rekapitulierte im Geiste die vergangenen Stunden. Die Sinnlosigkeit, die ich
dahinter entdeckte, ermattete meinen Geist nur noch mehr. Ich fühlte mich wie
ausgespuckt, während unablässig der Schleim aus meinem Körper in die Drainagen
rann. In ein paar Stunden stand die Fahrt nach Karst an. Das Mürrener
Krankenhaus hatte mir in einem letzten Akt der Gnade den Transport in einem
Rettungswagen gebucht, der mich von meiner Heimstatt abholen sollte. Ein
befreundeter Kollege aus dem Kartengeschäft hatte mir geraten, mich als
Privatpatient in die Hand eines Spezialisten zu begeben. Mir auch eine
Kapazität auf diesem Sektor namentlich empfohlen. Doch ich lehnte ab. Aus
Sturheit ebenso wie aus Bequemlichkeit. Ich wollte nicht von Pontius zu Pilatus
laufen, um eine adäquate Behandlung zu erhalten. Das musste doch wohl auch auf
normalem Wege zu erreichen sein. Mein Vertrauen in das staatliche
Gesundheitssystem war trotz allem noch nicht erschüttert. Womit ich bereits
meinen zweiten Kardinalfehler beging.
14
Von einem
Kulturschock zu sprechen, wenn man im siebten Stock auf die Station eines
Klinikums der westlichen Welt tritt, mag vielleicht weit her geholt sein. Aber
genau so erging es mir, als ich an der Leitstelle der internen Medizin meine
Anmeldepapiere abgab und am Gang auf einem harten Holzstuhl Platz nahm. Das
Krankenhaus von Karst erinnerte schon von außen eher an einen alten Ostblockbunker
und man sah sich im Inneren von dieser Annahme keineswegs getäuscht. Im
Einklang zu dieser grauen Tristesse schwang auch das diensthabende Personal
mit. Zumindest war das jenem Tonfall zu entnehmen, der laufend aus den direkt
zu meinem Sitzplatz angrenzenden Zimmern drang. Nach gut drei Stunden trat
schließlich eine zierliche Person vor mich hin, vergewisserte sich, ob ich auch
wirklich jener sei, dessen Name dort auf dem Papier stand und nahm mich ins
Schlepptau zu einem der Krankenzimmer. Es war helllichter Tag. Doch soviel Tod
und Siechtum hätte ich selbst in dunkelster Nacht nicht zu erwarten geglaubt.
Jeweils drei Betten an den Wänden links und rechts, getrennt von drei
aneinander gereihten, kurzen, quadratischen Tischen mit Bestuhlung. Gegenüber
eine breite Front geschlossener Fenster, hinter denen sich ein engmaschiges
Netz befand. Das war mein erster Eindruck. Erst kurz danach nahm ich die
Gestalten wahr, die in dieses Ambiente drapiert waren. Zumindest deren
körperliche Anwesenheit. Einen Blick in ihre Gesichter ersparte ich mir vorerst
noch. Vorerst.
15
Gab es in Mürren
festgelegte Zeiten für die ärztliche Visite, so war das in Karst nicht der
Fall. Was bedeutete, dass stationär aufgenommene Patienten mehr oder weniger
den halben Tag lang Gewehr bei Fuß zu stehen hatten. Immer in Erwartung der
Götter in weiß. Was mir jenseits der optischen Eindrücke in diesem Haus sofort
auffiel, war die latente Dreistigkeit, mit der man den teils schwer kranken Leuten
hier begegnete. Man hatte mir ein Bett in einem Zimmer voller alter,
röchelnder, sterbender Menschen gegeben. Was mir unterschwellig signalisierte,
dass es auch mit mir bald zu Ende gehen würde. Nachdem ich das obligatorische
Aufnahmegespräch hinsichtlich des Pflegepersonals und die turnusärztliche
Erstuntersuchung hinter mich gebracht hatte, wurde mir Blut abgenommen und ein
Venenzugang gelegt. Mehr war an diesem Tag nicht mehr zu erwarten. Soviel wurde
mir nach einem Blick auf meine Armbanduhr klar. Diese Annahme bestätigte die
diensthabende Stationsärztin, die mich am späten Nachmittag aufsuchte.
„Sind Sie
Michael Haymann?“, fragte sie scharf, als sie mit einer korpulenten Schwester
im Gepäck an meine Pritsche trat. Ein Schild auf dem Bettgestell wies diese
Tatsache ebenso aus wie das beschriftete Armband um mein rechtes Handgelenk.
Ihre rattenähnlichen, tiefschwarzen Augen stierten mich dabei wie ein Subjekt an,
dass gerade in der Prosektur gelandet war. Es gab Leute, da genügte schon eine
Geste, ein Blick und man verspürte diese unbeschreibliche Antipathie. Genauso
erging es mir in jenem Moment. Während ich ihr ohne zu antworten demonstrativ
mein Armband entgegen streckte, las ich das an ihrem Kittel angebrachte
Namensschild. Oberärztin Doktor Astrid Mauser. Nun, wir würden keine Freunde werden,
Astrid Mauser. Soviel stand schon einmal fest. Im Gutsherrenton sprach sie
weiter.
„Was führt Sie
zu uns?“ Ich sah den Packen Zettel am Rollpult vor ihr liegen, den ich bei der
Aufnahme abgegeben hatte. Ich deutete darauf. Ihre Augen weiteten sich. Normalerweise
hatte sie es an diesem Ort mit Menschen zu tun, denen ein Doktortitel absolute
Hörigkeit abverlangte. Deren einziges Aufbegehren darin lag, vielleicht eine
Prise Salz mehr in der gereichten Klostersuppe zu erbetteln. Und nun ein
solcher Affront.
„Werden Sie
nicht ungehalten!“, befahl sie mir nach Worten ringend. Damit war für mich die
Intelligenz dieser Person außer Frage gestellt.
„Wie kann ich
ungehalten sein, ohne dabei ein Wort zu sagen?“, erwiderte ich gleichgültig,
während die Drainagesäcke an mir drohten zu explodieren. Eine eigenmächtige
Entleerung wurde mir seitens einer sehr forsch auftretenden Oberschwester
untersagt. Es konnte schließlich nicht angehen, dass sich Patienten in derlei
Tätigkeiten einmischten. Wer hier vorstellig wurde, war praktisch schon entmündigt.
Zu dieser Erkenntnis hatten wenige Stunden des Aufenthalts gereicht. Mit einem
Blick zu den aufgeplusterten Beuteln, die seitlich meines Körpers quollen, gab
ich meiner bisherigen Einstellung Nachdruck. Astrid wies ihrer Untergebenen mit
einer erzürnten Kopfbewegung an, die drohende Katastrophe abzuwenden. Ich
lächelte provokant.
„Nun?“, fragte
sie unnachgiebig. Ich hegte für Starrsinn stets eine gewisse Bewunderung. Aber
nur an Orten, wo dieser auch angebracht war. Da ich diesem Machtspielchen
überdrüssig wurde, betete ich meine Geschichte beinahe schon resignierend herunter
und mir wurde daraufhin, beinahe wie von Zauberhand, plötzlich ein Formular
unter die Nase gehalten, dass ich auszufüllen und zu unterschreiben hatte. Eine
Einwilligungserklärung in eine endoskopische Untersuchung. Man wusste also
bereits, wie man meinen speziellen Fall zu Leibe rücken wollte. Und spielte
zuvor noch etwas Kasperltheater.
16
Meine erste
Nacht in Karst war wohl der Auslöser für all das, was danach noch kommen
sollte. Doch darüber war ich mir zu diesem Zeitpunkt keineswegs im Klaren. Ich
sah sie gemeinsam mit den schier unerträglichen Stunden auf der Mürrener
Überwachungsstation als das endgültige Ende der Fahnenstange an. Nicht wissend,
dass dies erst der Anfang war. Ich hatte also diesen mir ausgehändigten Wisch
durchgelesen und war im Zuge dessen dahinter gekommen, was man seitens der mir
bislang unsichtbar gebliebenen behandelnden Ärzte vor hatte. Im Großen und
Ganzen deckte es sich mit dem, was ich von daheim aus selbst in Erfahrung
brachte. Man würde mir eine starke, mich ins Land der Träume versetzende
Sedierung verabreichen, und mir anschließend ein kleines Plastikröhrchen, einen
sogenannten Stent in jenen Teil des Gallengangs legen, der bei der Operation
beschädigt wurde und seit dem den ordnungsgemäßen Abfluss der Gallenflüssigkeit
nicht mehr gewährleisten konnte. Ich hatte auch über die Art und Weise, wie
dieser Eingriff technisch von Statten ging einiges gelesen, es aber wohl aus gesundem
Selbstschutz sehr schnell wieder verdrängt. Mir genügte, dass es geschehen
sollte und wartete darauf, dass es auch geschah. Warum ich deswegen auf die
weite Reise nach Karst geschickt wurde, erschloss sich mir hingegen nur
teilweise. Und noch weniger der Umstand, deswegen bereits einen Tag vor dem
Eingriff anreisen zu müssen. Bloß um eine Blutprobe abgeben zu müssen, die
mittlerweile jeder Hausarzt ambulant abnahm. Hier wurde mir jene Philosophie zuteil,
einen Patienten so lange wie irgend möglich im Hause zu behalten. Auf Kosten
maroder Krankenkassen, die längstens aus dem letzten Loche pfiffen. Anstatt wie
durchaus machbar mittels Tagesaufnahme versorgt zu werden, bat man mich
stattdessen ins bequeme Gemach eines vor sich hinröchelnden Schlafsaals.
17
Kurz vor
Mitternacht wurde die breite Tür ins Zimmer geöffnet und ein Bett ans Ende der
mittigen Tischreihe geschoben. Von draußen drangen die Lichter Karsts herein,
von drinnen fluteten die Neonröhren am Gang den Raum. Ich war immer ein Mensch
gewesen, der die Verrückten anzog wie Fäkalien die Fliegen. Und daher wunderte
es mich keineswegs, als die Person, die auf dieser Pritsche lag, sofort in
meine Richtung starrte und ihren irren Blick nicht mehr von mir abwendete.
Egal, wie tief ich mich auch hinter meinem dünnen, zerschlissenen Bettlaken zu
verbergen suchte. Mit der Verlegung dieses Menschen ins Zimmer fing der Spuk
aber erst richtig an. Dadurch erwacht, fingen Patienten an zu schreien,
verfluchten Gott, lobten Krieg und die Verdammnis. Drehten ihre Bettlampen auf,
läuteten und ächzten ihren bevorstehenden Tod ein weiteres Mal in die Welt
hinaus. Viele der mir Bekannten hielten mich für einen herzlosen Menschen. In
jenem Moment war ich das tatsächlich. Sechs Pillen Zyankali hätten mich zwar
nicht schlafen lassen, wenigstens aber dieses Getöse rund herum gestoppt. Hier
in dieser Nacht, in diesem Zimmer begann ich die menschliche Existenz zum
ersten Mal wahrhaftig zu hassen. Weniger ihre Entstehung sondern vielmehr, was
aus ihr wurde. In dieser Nacht wurde ich endgültig ein Misanthrop. Woran sich
niemals mehr etwas ändern sollte.
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