Die Survival Show

LESEPROBE


Der Regen trommelte leise gegen das Fenster im Schlafzimmer. Michael Polck wälzte sich unruhig im Bett. Gebeutelt von befremdlichen Träumen. Ein kleines Rinnsal lief aus seinem Mundwinkel. Er stammelte, schnaubte, stieß einen Schwall voll Luft und Speichel aus. Und schreckte schließlich hoch. Mit gewohnter Handbewegung griff er nach einer Flasche Wasser und machte einen tüchtigen Schluck daraus. Dann rieb er sich die Augen, setzte seine am Nachtkästchen liegende Brille auf und ließ seinen Kopf zurück ins Kissen sinken. Er starrte hoch zur Decke und suchte dabei nach irgendeinen Gedanken, der ihn dazu bewegen konnte, aufzustehen. Der seine innere Leere überwand. Plötzlich stand Tristan vor ihm. Michael erschrak. Wenn auch nur ganz kurz.
„Verdammt!“, schalt er ihn. „Du weißt, wie ich nach dem Aufwachen drauf bin.“ Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es beinahe Mittag war. Tristan bedachte Polck mit einem kaum merklichen Lächeln und verließ den Raum. Michael folgte ihm nach kurzer Überlegung und gemeinsam schritten sie die steile Treppe in die Küche runter. Michael Polcks Haus war klein. Es bestand bloß aus der Mansardenkammer, der Küche, einem Arbeitszimmer und dem Bad. Ja, und einer angebauten Garage, wenn man die dazuzählen wollte. Er hatte es spontan erworben, als er mit seinem Wagen, einem dunkelgelben 72er Ford Mustang herumgefahren war. In jener Region Ostreichs, in der er aufgewachsen war. Dem Waldviertel. Das letzte Geld war dabei draufgegangen, dass er mit seinem bislang einzigen Romanerfolg verdient hatte. Drei Jahre war das mittlerweile her. Drei Jahre, die er mit Schreiben, einem kleinen Bibliotheksjob und den wiederkehrenden Besuchen von Tristan, der auf der Couch im Arbeitszimmer schlief, verlebt hatte.
„Frühstück?“, fragte er seinen Freund, der dankend abwinkte. Sein eigener Magen war auch noch nicht bereit zur Nahrungsaufnahme. Zu stark bohrten die Nachwirkungen des gestrigen Besäufnisses in seinem Körper. „Ich werde mir eine Tasse Tee machen“, sagte er schließlich mehr zu sich selbst und setzte einen Kessel mit etwas Wasser darin auf. Tristan schaltete den Fernseher im Arbeitszimmer an und nahm in dem schmalen Ohrensessel Platz, der davor stand. Er zappte durchs Programm und blieb schließlich bei irgendeiner Serie hängen. Michael hielt nicht viel vom Fernsehen. Wenn er betrunken war, sah er sich hin und wieder eine Sportübertragung an. Oder eine Geschichtsdokumentation. Aber es störte ihn nicht, wenn sein Freund guckte. Tristan war der einzige, der ihm geblieben war. Und er wollte es sich nicht auch noch mit ihm verderben. Was ihm zumeist jedoch nur gelang, wenn er nüchtern blieb. Dieser hagere Kerl mit seinen langen Koteletten und der wulstigen Nase hatte einen unschätzbaren Vorteil. Er war zurückhaltend. Drängte sich niemals auf. Beim bisherigen Höhepunkt seiner Schriftstellerlaufbahn war er aus Michaels Gesichtsfeld verschwunden und erst dann zurückgekehrt, als sich alle anderen wieder von ihm abgewandt hatten. Seine Launen, seine Exzentrizität, vor allem aber seinen gesellschaftlichen Abstieg nicht länger ertragen wollten. Das Wasser begann zu kochen und Polck goss es über einen Schwarzteebeutel. Dazu ein tüchtiger Schluck Rum und langsam kehrten seine Sinne wieder zurück. Er fragte sich, wie es die Amerikaner während der Prohibition ertragen hatten, fast 14 Jahre lang ohne Alkohol auszukommen. Zumindest jene, die sich ans Gesetz hielten. Das musste dem Wahnsinn enormen Vorschub geleistet haben. Dessen war er sich völlig sicher. Er nahm seine Tasse und setzte sich damit zum Schreibtisch. Neben den immer magerer werdenden Einkünften als Romanautor, bestritt er seinen Lebensunterhalt hauptsächlich mit Kommentaren auf literarischen Internetportalen und Reportagen, die er für ein regionales Lifestylemagazin verfasste. Seit zwei Tagen arbeitete er an einer Geschichte über einen Schneider, der in einem verschlafenen Dorf ganz in der Nähe Haute Couture anfertigte. Und den er vor kurzem im Beisein eines Fotografen interviewt hatte.
„Was soll ein Typ wie ich bloß über Mode schreiben? Über diesen ganzen Firlefanz, den sich irgendein überspannter Schwanzlutscher in Paris hat einfallen lassen?“, fragte er sich laut. Tristan reagierte nicht. Er starrte bloß weiter auf die Mattscheibe. Michael trank seinen Tee aus und holte die Flasche Rum, die noch auf dem Küchentisch stand. Er zündete sich eine Zigarette an und ging zurück zum Computer. Doch anstatt sich weiter dem Artikel zu widmen, mit dem er nur schlecht vorankam, wandte er sich seinem Freund zu. Der Rum tat binnen kürzester Zeit seine Wirkung. „Das Problem mit Leuten wie dir ist, dass sie sich jeden Trash reinziehen. Superman, Supergirl. Die Wetterfee im kurzen Rock. Den krausköpfigen Landschaftsmaler. Irgendwelche Fernsehtanten, die endlos lange mit gesichtslosen Politikern diskutieren. Und sich dabei im Kreise drehen wie die Kinder im Karussell am Jahrmarkt.“ Polck dämpfte den Glimmstängel aus und steckte sich augenblicklich den nächsten an. Doch ehe er sich richtig in Rage reden konnte, stand Tristan auf und ging zur Eingangstür raus. Michael sog den Rauch begierig in sich auf. Dann drehte er sich zurück zum Bildschirm. „Soll er doch gehen“, flüsterte er leise. Und begann dann wütend einige Worte in die Tastatur zu hämmern. Mode!

*

Michael sperrte die Tür auf und ging die Treppen hoch in die erste Etage. Als er vom pulsierenden Vindobona ins beschauliche Dörfchen Eichenau umgezogen war, das nur einen Steinwurf von seinem Geburtsort Mürren entfernt lag, hatte er das bloß getan, um aus der Umklammerung der Großstadt zu entfliehen. Sich und seine Gedanken wieder zu erden. Seinem Leben eine neue Richtung, eine neue Orientierung, ja einen neuen Sinn zu verleihen. Er war dem pseudointellektuellen Geschwafel in seinem Umfeld ebenso überdrüssig geworden, wie der unterschwelligen Häme, nicht an alte schriftstellerische Erfolge anknüpfen zu können. Was aus seiner Sicht weniger mit seinen Texten, sondern vielmehr mit der zunehmenden Verbohrtheit des Publikums zu tun hatte. Was an und für sich bereits einen nicht wieder gut zu machenden Kardinalfehler darstellte. Doch Polck wollte davon nichts wissen. „Und wenn die Hölle zufriert“, pflegte er stets zu sagen, wenn man ihn mit unglücklichen, öffentlich getätigten Aussagen konfrontierte. „Am Ende wird mir das selbstgerechte Feuilleton Recht geben. Recht geben müssen.“ Die Zeiten waren vorbei, als er im Rampenlicht stand und mit seiner Gegenwartserzählung „Karla“ von jenen gefeiert wurde, mit denen er sich nun überwarf. Und erkennen musste, dass es nicht er war, der am längeren Ast saß. Die Journaille lechzte nach Siegern. Nach Helden. Für alle anderen blieb nur der Katzentisch. Oder der Tritt in den Arsch. Er drehte das Licht auf und fuhr den Computer hoch. Vor einigen Monaten war er zum Leiter der Bücherei im Ort bestellt worden, nachdem seine Vorgängerin aufgrund von Querelen mit der Dorfprominenz hingeschmissen hatte. Da sich sonst niemand beworben hatte, war er mit dieser Aufgabe betraut worden, die ihn an zwei Nachmittagen pro Woche ins Ortszentrum führte. Es war sein gesellschaftlicher Anschluss, wenn man so wollte. Vordergründig ging es ihm aber nur um die Bezahlung, wenngleich er das niemals zugegeben hätte. Dennoch. Es bereitete ihm durchaus Freude, in diesem umfunktionierten Saal von tausenden von Büchern umgeben zu sein, von denen er nur einen marginalen Bruchteil selbst geschrieben hatte. Es hielt ihm vor Augen, wie unbedeutend er in Wirklichkeit war. Genauso wie jeder andere Autor auch. Und dennoch erfüllte es ihn mit gewissem Stolz, seinen kleinen Beitrag an diesem Sammelsurium zu leisten. Es gab ihm das Gefühl, dass man seine Existenz nicht vollends vergessen würde. Auch wenn er längstens tot war. Es war seine Spur im Sand der Ewigkeit. Das machte ihn nicht weniger verdrießlich. Aber es bewahrte ihn davor, den Verstand zu verlieren. Und es fiel ihm dadurch leichter, sich mit der Tatsache abzufinden, dass irgendwann einmal die Lichter ausgingen. Michael checkte die per E-Mail eingegangenen Nachrichten, suchte die online reservierten Bücher zusammen und ging schließlich zur kleinen Kochnische, in die ein Kühlschrank integriert war. Dort schenkte er ein Glas mit Weißwein voll und leerte es in einem Zug. Diesen Vorgang wiederholte er noch zweimal, ehe er bereit war, Kunden zu empfangen. Was er schließlich auch mit keineswegs gespielter Freundlichkeit tat. Er zollte jedem Menschen gewissen Respekt, egal ob groß oder klein, ob Mann oder Frau, der sich die Mühe machte, ein Buch zu lesen. Was in einer Zeit wie dieser keineswegs mehr selbstverständlich war. Zu viele Ablenkungen gab es mittlerweile, die die Sinne verwirrten. Verirrten. Zu viele Möglichkeiten, die keinen Funken mehr an Eigeninitiative verlangten. Keine aktive Beteiligung. Man ließ sich nur allzu gerne berieseln. Von Bildern, von Tönen. Wer gab sich da schon die Mühe, sein Gehirn, seine Phantasie zu gebrauchen? Sich ein eigenständiges Urteil zu bilden? Kaum noch jemand! Und darum war es auch nicht verwunderlich, dass die Stunden in der Bücherei ruhig verliefen. Unaufgeregt. Mit kurzen, aber durchaus tiefsinnigen Gesprächen. So wie auch an diesem Tag. Michael ordnete gerade zwei retournierte Bücher in eines der langen Regale ein, als Tristan grinsend um die Ecke bog. Er war wie eine Katze. Nur schlich er sich nicht an, um Beute zu machen. Oder doch? Polck lachte kurz auf.
„Seit wann suchst du etwas zum Lesen?“, fragte er ihn ohne Umschweife. Doch sein Freund blieb stumm. Zuckte bloß kurz mit den Schultern. Michael nannte ihm einige Titel, der er empfehlen konnte, doch nichts davon war nach Tristans Geschmack. „Es ist besser, wenn du weiter fernschaust“, beendete er schließlich seine Bemühungen. Im nächsten Moment hörte er Schritte hinter sich.
„Mit wem sprichst du da?“, wollte ein älterer Mann wissen, der Josef hieß. Michael drehte sich ruckartig um. Er war im Begriff diese Frage zu beantworten, da Tristan aber bereits wieder gegangen war, verzichtete er darauf. Langwierige Erklärungen waren ihm stets zuwider.
„Grüß dich, Columbo“, sagte er stattdessen. Josef war einer der tüchtigsten Leser im Dorf und da er ein Glasauge trug, erlaubte sich Michael immer Mal wieder diesen kleinen Scherz in Anlehnung an den berühmten TV-Schnüffler. Zumal der Herr besonders gerne Kriminalromane las.
„Servus“, antwortete dieser und fragte nach der neuesten Untat eines bekannten heimischen Schreibers, den Polck auf den Tod nicht leiden konnte. Dennoch suchte er, ohne sich etwas anmerken zu lassen, besagte Räuberpistole heraus und überreichte sie ihm. Nachdem der Verleihvorgang administrativ abgeschlossen war, sah Josef scharf in Michaels Gesicht.
 „Du wirkst angespannt“, kam es frei heraus. Polck nickte vielleicht etwas zu schnell. Wenngleich es der Wahrheit entsprach.
„Ja, ich bin ziemlich angepisst.“ Der ehemalige Erfolgsautor nahm sich in der Bibliothek eigentlich immer sehr zurück und offenbarte kaum jemand seine menschliche Seite. Columbo war da aber eine Ausnahme. Sie hatten bereits mehrmals miteinander im nebenan befindlichen Wirtshaus gezecht und Josef hatte dabei so etwas wie den Ersatzvater für den Schriftsteller gespielt, dessen reales Pendant ihm ein Lebtag lang gefehlt hatte.
„Wann sperrst du ab?“, wollte der alte Mann wissen. Michael sah auf die Uhr.
„In einer knappen Stunde.“
„Na, bis dahin.“ Damit war alles besprochen.

*

Michael winkte die Kellnerin herbei und bestellte zwei weitere Gläser Bier. Den Gin Tonic, wie es zu seinen Hochzeiten in den Illustrierten gestanden hatte, trank er nur in seinen eigenen vier Wänden. Wenn er sich hinter verriegelter Tür die sprichwörtliche Kante gab.
„Die letzten Tage, die ich in meiner Wohnung in Vindobona verbracht habe, waren die schlimmsten in meinem ganzen Leben gewesen“, vertraute er sich seinem Freund an. „Als ich im Bad auf der geschlossenen Kloschüssel hockte und merkte, wie die beigefarbenen Fliesen rings herum immer näher rückten, hatte nicht mehr viel gefehlt. Das Wasser war jedenfalls bereits in die Wanne gefüllt und der Fön lag bereit.“ Polck machte einen tiefen Zug und kehrte für einen Moment in dieses Zimmer zurück. Er spürte die Leere, die Angst, die Beklommenheit, die ihn damals beseelt hatte, ganz deutlich. So, als wäre diese Tortur niemals zu Ende gegangen. Dieser emotionale Selbstzerstörungstrip.
„Du hast es nicht verkraftet, erfolgreich zu sein“, folgerte Josef messerscharf. „Noch weniger hast du es aber verwunden, dass nach jedem Hoch auch wieder ein Tief folgt.“ An dieser Feststellung gab es nichts zu rütteln. Michael standen die Tränen hoch in seinen Augen.
„Scheiße“, sagte er schließlich in erstickender Stimme. „Ja, du hast Recht. Aber das alleine ist es nicht. Es geht noch weitaus tiefer. Und daran werde ich, ja kann ich nur zerbrechen.“ Ohne sich weiter zu erklären, sank er in sich zusammen und lenkte seine Konzentration auf den Alkohol, der fortwährend vor ihn hingestellt wurde. Bis er zur Sperrstunde raus auf die Straße wankte, auf sein klappriges Fahrrad stieg und sich auf den Weg dorthin machte, von wo er am frühen Nachmittag hergekommen war.

*

Er fuhr die beleuchtete Straße Richtung Ortsende entlang und als er dieses erreichte, öffnete sich tiefste Dunkelheit vor ihm. Das Licht an seinem Vehikel funktionierte nicht und so fuhr er praktisch im Blindflug den stark abschüssig werdenden Weg runter zu seinem Haus, das direkt an jener Bahntrasse lag, die Mürren mit dem 150 Kilometer entfernten Vindobona verband. Er strauchelte mehrmals, streifte einige Straßenbegrenzungen und touchierte den Bahnschranken, der in Sichtweite seines Heims angebracht war. Nur einem mittleren Wunder und dem Zutun einiger unsichtbarer Schutzengel war es zu verdanken, dass er schließlich vor seinem Gartentor ankam, das Rad unter Flüchen zu Boden warf und umständlich den passenden Schlüssel fand, der ihn Zutritt zu seinem Grund und Boden ermöglichte. Wo er dann auch liegen blieb und, sich mehrmals erbrechend, das Bewusstsein verlor.


*

Der erste Zug fuhr um etwa vier Uhr morgens vorbei, doch den nahm er nicht wahr. Auch die folgenden nicht. Es dauerte bis kurz nach neun, ehe ihn das Pfeifen eines Gütertransports wach kriegte. Michael stand auf, schlug notdürftig Sand und Steine von seiner Kleidung und setzte sich auf die Bank, die neben der leicht verwitterten Eingangstür zu seinem Haus stand. Beides war einst moosgrün gestrichen worden, doch der Lack war weitgehend ab. Was für eine Metapher. Was für ein Synonym zu seinem eigenen Leben. Der gelbe Kombi des Postboten bog auf den kurzen Schotterweg zu seinem Haus ein, machte an einer kleinen Ausbuchtung kehrt und schob schließlich zu Polcks Briefkasten zurück. Dort warf er grußlos die für Michael bestimmten Sendungen ein und brauste mit durchdrehenden Rädern wieder davon. Alle waren zu Knechten der Zeit geworden. Egal ob in der Stadt oder auf dem Lande. Trugen an schweren Ketten noch schwerere Uhren um ihre Hälse, die ihnen den Blick nach vorne raubten. Michael erhob sich schwer und sperrte die Haustür auf. Tristan wartete bereits mit tadelndem Blick auf ihn.
„Da draußen wurde Post eingeworfen“, teilte er ihm mit. „Aber mach dir nicht die Mühe. Ich hole sie später. Wenn ich geduscht und einen kleinen Bissen gegessen habe.“ Er ging an seinem schweigsamen Freund vorbei ins Bad. Sofort kamen ihm die beigefarbenen Fliesen wieder in den Sinn.

*

Michael räsonierte mitunter stundenlang vor sich hin. Und nur Tristan schien geneigt, sich diesen oft endlosen Sermon anzuhören. Zumeist bei eingeschaltetem Fernseher. Nachdem der Artikel über den Schneider endlich fertig und von der Redaktion abgenommen worden war, genehmigte sich der Schriftsteller ein großes Glas Gin Tonic und setzte sich mit einer Zigarette im Mund neben seinem Freund.
„Sie haben mich gezwungen, wie sie zu sein. Aber das habe ich immer abgelehnt.“ Damit war der Vortrag bezüglich eines seiner Lieblingsthemen eröffnet. Tristan nickte wohl wissend und konzentrierte sich umso intensiver auf eine Frau in schwarzen Hosen, die abwechselnd auf Leute einredete, die im Halbkreis vor ihr saßen. In erkennbarem Abstand. Michael trank vier Gläser binnen einer Viertelstunde und stand schließlich auf. Setzte sich an seinen Schreibtisch und fuhr mit der Arbeit an seinem neuen Roman fort. Er schrieb noch härter als sonst. Schonte niemanden. Am wenigsten sich selbst. Aufgewachsen in zerrütteten Verhältnissen, schaffte er allen Widrigkeiten zum Trotz die mittlere Reife, die ihm ein Leben mit einem unspektakulären, aber beschaulichen Job ohne große Mühsal ermöglicht hätte. Doch so ein Dasein war nicht nach dem Geschmack von Michael Polck gewesen, der einen beinahe tragischen Hang dazu pflegte, stets den allerhärtesten Weg zu gehen. Das äußerte sich in allem, was er tat, was er darstellte und noch viel mehr darin, was er verachtete. Polck schleppte lieber Steine, als Papier im Faxgerät nachzufüllen. Er teilte lieber das Brot mit Arbeitern, die bis zur Taille in der Jauche standen, als nichtssagende Höflichkeitsfloskeln mit einer an den Fingern manikürten Sekretärin auszutauschen. Er verachtete alles und jeden, am meisten aber sich selbst. Und darum schaffte er es auch nicht, sich die Zugehörigkeit zu irgendeiner gesellschaftlichen Gruppe zu ermöglichen. Denn sowohl die Elite, wie auch die niederen Klassen misstrauten ihm. Der Mittelstand sowieso. Die einen straften ihn für seine Verachtung, die anderen nahmen sie ihm nicht ab. So blieb er zeitlebens im Niemandsland gefangen. Als der perfekte Außenseiter. Und diese Rolle nahm er irgendwann auch an. Vielleicht schneller, als gedacht. Ja, er suhlte sich beinahe darin. Polck stilisierte sich selbst zum ultimativen Antihelden. Und schrieb mit „Karla“ einen beeindruckenden Tatsachenbefund. Doch er erkannte nicht, dass die Menschen seine negativen Energien nur eine gewisse Zeitlang amüsant fanden. Danach wollten sie wieder Geschichten lesen, die sie vor ihrer eigenen Morbidität bewahrten. Und diese nicht auch noch beförderten. Dieses Momentum übersah er. Und bekam die Rechnung präsentiert. So wie jedem die Rechnung serviert wurde, der sich zu viel erlaubte, außer Tritt marschierte.

*

Tristan war irgendwann vor dem Fernseher eingeschlafen und Michael las keine zwei Meter entfernt in einem seiner Lieblingsromane, die er nicht selbst geschrieben hatte. Als er das Buch kurz beiseitelegte, begann er scharf.
„James Sallis hat in Drive das formuliert, wozu die meisten Autoren gar nicht fähig sind!“, rief er triumphierend aus. „Er hat sich auf das allerwesentlichste konzentriert und praktisch alles außen vor gelassen, was ihm vom Wege abgebracht hätte. Für mich ist das eine Meisterleistung. Gerade deswegen, weil es so verdammt schwierig ist, die Linie nicht aus den Augen zu verlieren. Zu oft ergibt sich selbst das größte Talent in Nebenschauplätzen und Unzulänglichkeiten.“ Michael war also einmal mehr im Begriff, sich einem Selbstgespräch hinzugeben, als plötzlich etwas auf dem Fernsehbildschirm vor ihm seine Aufmerksamkeit erweckte. Zuerst nur oberflächlich, war er irgendwann einmal nicht mehr imstande, seine Augen davon zu lassen. Also nahm er schließlich neben seinem schnarchenden Freund Platz, zündete sich eine weitere Zigarette an und verfolgte das Geschehen vor ihm. Mit stetig steigendem Interesse.


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